Als "absolut schrecklich" hat Mary McLoughlin, eine Mitarbeiterin des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR), die Lage in der ostbosnischen Stadt Gorazde einen Tag nach dem Abzug der serbischen Belagerungstruppen beschrieben. Die Ärztin hatte in den drei Wochen des Dauerbeschusses im Krankenhaus der UN- Schutzzone gearbeitet. Sie berichtete, serbische Artilleristen hätten gezielt auf Gebäude geschossen, in denen sich Frauen, Kinder und Verwundete versteckten.
Auf das Krankenhaus seien immer zwei Granaten hintereinander abgeschossen worden, von denen die erste die Aufgabe gehabt habe, die Sandsackbarrieren zu durchschlagen, mit denen sich die Menschen zu schützen versuchten. Die zweite Granate sei immer in Richtung auf die Bresche der ersten abgefeuert worden. Im Krankenhaus selbst hätte mit unsterilisierten Geräten, ohne Wasser und Medikamente operiert werden müssen. Aufgrund der ständigen Angriffe seien die Patienten in Ecken und Räumen zusammengepfercht worden, die normalerweise nicht einmal als Lager in Frage kämen.
Nach Angaben des Sarajevoer UNHCR-Sprechers Peter Kessler sollen vorerst 400 bis 600 der insgesamt 2.000 Schwerverletzten in Gorazde nach Sarajevo ausgeflogen werden. Kessler bedauerte die UN-Entscheidung, den serbischen Truppen eine Inspektion jedes der seit gestern zwischen Gorazde und der bosnischen Hauptstadt verkehrenden Hubschraubers zu gestatten. Die rund 40 Minuten, die die Prozedur pro Maschine dauert, gefährde das Leben vieler Menschen, die dringend ärztliche Behandlung benötigten.
Die Truppen der bosnischen Serben zogen sich unterdessen offenbar weiter hinter die durch das Nato-Ultimatum vom Freitag bestimmten Linien zurück. UNO- Sprecher Eric Chaperon teilte mit, die schweren Waffen befänden sich vermutlich schon außerhalb der dort festgelegten Drei-Kilometer-Zone um Gorazde. Es gäbe Hinweise, nach denen die serbischen Truppen sich direkt bis zu der durch das zweite Nato-Ultimatum vom Samstag festgelegten Zwanzig-Kilometer-Zone zurückzögen. Für den Fall, daß der Abzug bis zu dieser Linie nicht bis Mittwoch um 2.00 Uhr nachts vollendet ist, drohen den serbischen Truppen Nato-Luftangriffe.
Gleichzeitig verstärkte die UNO ihr Truppenkontingent in Gorazde weiter: Zu den rund 150 ukrainischen Blauhelmen und den 40 skandinavischen Sanitätern, die die Stadt bereits in der Nacht auf Sonntag erreicht hatten, trafen gestern 247 britische, russische und ägyptische UN-Soldaten ein. In London wollten die Außenminister der USA, Großbritanniens und Frankreichs gestern nachmittag auf einem kurzfristig angesetzten Treffen über das weitere Vorgehen in Bosnien beraten. Nach Angaben des französischen Außenministers Alain Juppé soll ein Treffen der USA, Rußlands, der EU und der UNO vorbereitet werden, auf dem eine gemeinsame Position zu Bosnien erarbeitet werden soll.