Seit den ersten Meldungen über das jüngste Massaker in Sarajevo am Samstag mittag stieg die Zahl der Opfer stündlich. "Mindestens zehn", "mehr als 30", zuletzt 68 Menschen kostete der Mörserangriff auf den belebten "Markale"-Marktplatz im Zentrum der bosnischen Hauptstadt das Leben. Die Zahl der Verletzten wurde bei Redaktionsschluß mit 200 angegeben - ein neuer Höhepunkt in der Bilanz von 22 Monaten Belagerung Sarajevos durch die Truppen der bosnischen Serben.
Die hohe Zahl der Verwundeten und Toten belegt, daß sich die rund 380.000 in der Stadt verbliebenen Menschen nach dem Terror der letzten Tage und Wochen augenscheinlich auf ein etwas ruhigeres Wochenende eingestellt hatten. Eine Zuversicht, die weniger einem nur zu verständlichen Wunsch nach etwas Ruhe nach all den Monaten des Schreckens als der blanken Not geschuldet war: Seit dem Ende der letzten Genfer Verhandlungsrunde kurz vor Weihnachten hatte aufgrund ständiger Angriffe kaum die Möglichkeit bestanden, sich mit dem zum Leben Allernotwendigsten zu versorgen.
Nach dem Trommelfeuer der Silvesternacht, als die serbische Artillerie nur Stunden nach der Verkündung eines "Waffenstillstandes" über die Weihnachtsfeiertage die bosnische Hauptstadt unter Dauerbeschuß genommen hatte, war die Reihe der Artillerieangriffe auf Sarajevo nicht mehr abgerissen. Am 3. Januar kosteten Granaten aus serbischen Stellungen in den Bergen um die Stadt 15 Menschen das Leben. Am 4. Februar töteten Granateinschläge im Zentrum Sarajevos acht Menschen, 48 weitere wurden verletzt. Am 22. Januar starben sechs Kinder beim Beschuß der Vororte Alipasino und Polje. Sie hatten versucht, eine scheinbare Waffenruhe zum Rodeln im frisch gefallenen Schnee zu nutzen. Nicht zuletzt war die offensichtliche Arglosigkeit der Menschen auf der "Markale" am Samstag auch dem Granatenangriff auf den Vorort Dobrinja vom Freitag geschuldet, bei dem zehn Menschen umgekommen waren. Sie hatten um Brot und Hilfsgüter angestanden.
Die täglich rund vier bis fünf "normalen" Kriegstoten Sarajevos kommen in diesen Angaben nicht vor. Menschen etwa, die beim Versuch, eine Straße zu überqueren, von den Heckenschützen, den sogenannten "Snajperi", getroffen werden oder sich zufällig in der Nähe einer der bisher vier Millionen Granateinschläge befanden. Nur allzuoft verstellt das Medienereignis Sarajevo denn auch die Sicht auf die Tatsache, daß der Krieg auch in anderen Teilen Bosniens täglich Menschenleben fordert. Bisher sind in der ehemaligen jugoslawischen Republik cirka 300.000 Menschen durch Krieg und Kriegswirkungen ums Leben gekommen.
Das Verhalten der Kriegsparteien nach spektakulären Angriffen wie dem auf die "Makale" folgt einem immer gleichen Muster: So lehnte die militärische Führung der international nicht anerkannten "Serbischen Republik Bosnien- Herzegowina" wie so oft jede Verantwortung ab. "Ich behaupte kathegorisch, daß die serbischen Truppen um diese Zeit und in diesem Gebiet nicht gefeuert haben", ließ der Generalstabschef der bosnischen Serben, Manojlo Milanovic, die Belgrader Nachrichtenagentur Tanjug am Samstag nachmittag verbreiten. Zudem besäßen seine Soldaten gar nicht die Waffen, um ein Massaker dieses Ausmaßes anrichten zu können.
Die zweite Stellungnahme der serbischen Führung am Samstag abend ging noch weiter: Tatsächlich hätten die mittlerweile auch von den westlichen Medien fast durchgängig als "Moslems" bezeichneten Truppen der bosnischen Regierung das Blutbad auf dem Marktplatz ihrer Hauptstadt angerichtet, hieß es da aus dem Umfeld des selbsternannten "Präsidenten" der bosnischen Serben, Radovan Karadzic. "Wir verlangen eine internationale Untersuchung unter Teilnahme serbischer Offiziere, damit die Schuldigen gefunden und aufs schärfste bestraft werden" so der ehemalige Psychater. Werde dieser Forderung nicht nachgekommen, würden die bosnischen Serben alle Hilfskonvois durch die von ihnen besetzten Gebiete stoppen. Das Massaker sei, so Karadzic weiter, "ein Verbrechen gegen den Frieden, von den Moslems inszeniert, damit es nicht zur Fortsetzung der bosnischen Friedensverhandlungen kommt".
Konkrete Hilfe wurde den Menschen in Sarajevo bisher nur von der amerikanischen Regierung zuteil: Die US-Streitkräfte in Deutschland entsandten umgehend ein Ärtzteteam aus Frankfurt am Main in die bosnische Hauptstadt. 13 Mediziner seien am Sonntag morgen vom US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein mit Kurs auf Sarajevo gestartet, teilte eine Sprecherin der Air Force auf dem Frankfurter Flughafen mit. US-Präsident Bill Clinton ordnete zudem eine Hilfsaktion zur Evakuierung der auf der "Makale" Verletzten an. In den nächsten Tagen sollen umgebaute C-130 Truppentransporter von Deutschland aus starten und die verwundeten Menschen entweder in die kroatische Hauptstadt Zagreb oder nach Deutschland ausfliegen. Eine Hilfe für die Verletzten, die jedoch den Terror gegen die Menschen in Bosnien nicht beenden kann.