In der Nacht zum Sonntag heulten erstmalig nach über zwanzig Monaten Waffenruhe in der kroatischen Hauptstadt Zagreb wieder die Sirenen. Kurz nach dem Alarm schlug eine mit 500 Kilogramm Sprengstoff bestückte Rakete vom Typ "Luna 17" in Lucka, einem südlichen Vorort der kroatischen Hauptstadt, ein. Das Boden-Boden-Geschoß, das aus der südöstlich gelegenen "Serbischen Republik Krajina" abgefeuert worden war, verfehlte das Ausbildungslager einer Spezialeinheit der kroatischen Armee knapp und zerstörte im Umkreis von fünfhundert Metern Gebäude, Stromleitungen und Fensterscheiben. Neun Menschen wurden verletzt.
Auch das rund 30 Kilometer vor Zagreb gelegene Samobor sowie die Ortschaften Karlovac, Gospic und Jastrebarsko wurden am Samstag mit Granaten beschossen. Die aufständischen kroatischen Serben hatten bei der Abspaltung Kroatiens von der jugoslawischen Föderation 1991 ihrerseits ihre Sezession von Kroatien erklärt. Die Kämpfe zwischen ihrer international nicht anerkannten "Republik Krajina" und regulären kroatischen Truppen waren am Donnerstag erneut aufgeflammt, nachdem Einheiten der kroatischen Armee die Grenze des nominell unter UN-Verwaltung stehenden Gebietes überschritten und mehrere Dörfer erobert hatten.
Sprecher der UN-Schutztruppen (UNPROFOR) bewerteten die Kämpfe als die bisher schwersten seit dem offiziellen Ende des Krieges in Kroatien im Frühjahr 1992. Der kroatische Präsident Franjo Tudjman befahl seinen Truppen gestern mittag einen 24stündigen Waffenstillstand, innerhalb dessen die Unterzeichnung eines Waffenstillstandes zwischen der Regierung in Zagreb und den Machthabern in der Krajiner "Hauptstadt" Knin ermöglicht werden soll.
Derweil bleibt EG-Vermittler Lord David Owen Optimist: Trotz der Eskalation der Kämpfe in Kroatien, trotz des Dauerbeschusses der herzegowinischen Hauptstadt Mostar durch den "Kroatischen Verteidigungsrat" (HVO) und sich verschärfenden Gefechten zwischen serbischen und kroatischen Milizen und der Armee Bosnien-Herzegowinas rechnet Owen weiterhin mit einem baldigen Frieden. Bei der EG-Außenministertagung am Wochenende im belgischen Bilzen betonte Owen, er sei sicher, daß die Kriegsparteien sich noch im September wieder an den Genfer Verhandlungstisch setzen würden.
Die nordbosnische Serbenhochburg Banja Luka wird seit Freitag von aufständischen serbischen Soldaten blockiert. Die schwer bewaffneten Truppen fordern direkte Verhandlungen mit dem selbsternannten "Präsidenten" der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, dessen politischem Umfeld sie Korruption und Kriegsgewinnlertum vorwerfen. Nach Angaben von Radio Belgrad ist die Lage in Banja Luka ruhig, der "Krisenstab" der meuternden Truppen gab dagegen die Verhaftung von 116 Personen wegen Schmuggels bekannt. Sprecher der Meuterer forderten die Verbesserung der sozialen Bedingungen der Frontsoldaten und ihrer Familien sowie "einschneidende Maßnahmen" gegen die weitverbreitete Kriminalität in den serbisch besetzten Gebieten Bosnien-Herzegowinas.
Am Freitag abend ist offenbar auch die bosnisch-muslimanische Seite im Krieg um die ehemalige jugoslawische Republik zerfallen. Nach Angaben von TV Sarajevo erklärte sich die nordwestlich gelegene Region Bihac für "autonom". Der ehemalige Unternehmer Fikret Abdic, der im bosnischen Staatspräsidium Bihac vertritt, sagte, die Autonomieerklärung sei kein Akt des Separatismus. Viemehr handle es sich um eine Reaktion auf die Politik der bosnischen Regierung unter Präsident Alija Izetbegovic, die die seit Kriegsbeginn von serbischen Verbänden eingeschlossene Region vernachlässigt habe. Gut unterrichtete Kreise vermuten allerdings, daß Abdic sein Gebiet als eine Art vierte Komponente in die Genfer Bosnien-Verhandlungen einbringen will. Der ehemalige Direktor des Agrarkombinats "Agorkomerc" in Velika Kladusa gilt seit langem als Rivale Izetbegovics um das Amt des bosnischen Präsidenten.