Rüdiger Rossig | Journalist | Novinar

Massenflucht der alten Funktionäre

Der Sieg des Demokratischen Bündnisses DOS bei den heutigen Parlamentswahlen in Serbien scheint sicher. Gewendete Exsozialisten versuchen in den neuen Organisationen Fuß zu fassen. Derweil toben bei DOS schon heftige Verteilungskämpfe | aus Belgrad Rüdiger Rossig

"Warum sollte ich wählen gehen?", fragt Nena. "Ist doch klar, wer gewinnt." Nicht dass die 23-Jährige etwas gegen die Politiker oder Parteien des Bündnisses Demokratische Opposition Serbiens (DOS) hätte. Im Gegenteil: Noch vor zwei Monaten hat Nena die DOS aktiv unterstützt

Die Studentin war Aktivistin der Studentenbewegung Otpor (Widerstand), organisierte Konzerte, Proteste und klebte Plakate gegen das Regime von Milosevic. Doch seit dessen Sturz am 5. Oktober war Nena nur noch auf einem Otpor-Treffen. "Milosevic ist weg, das ist alles, was ich wollte. Den Rest werden die demokratischen Politiker machen."

Diese Zuversicht teilen viele in Serbien. Prognosen zufolge werden zwischen 70 und 80 Prozent der 6,5 Millionen Stimmberechtigten für die 18 in DOS zusammengeschlossenen Parteien stimmen. Führende Politiker der ehemaligen Anti-Milosevic-Opposition, allen voran Jugoslawiens Präsident Vojislav Kostunica und der DOS-Kandidat für das Amt des Premiers, Zoran Djindjic, werden seit dem Sturz Milosevic auch in den staatlichen Medien bevorzugt behandelt.

Dabei taugt Milosevic samt Familie immer noch für die Seite 1 der Belgrader Tagespresse. Erst gestern machte Blic, auflagenstärkste Zeitung Jugoslawiens, mit einem Foto des Expräsidentensohns Marko Milosevic auf. Sechs Diplomatenpässe soll der 26-Jährige mit guten Kontakten zur Belgrader Unterwelt bis vor kurzem gehabt haben.

Markos Mutter Mirjanja Markovic gab derweil bekannt, ihr Sohn habe ein derart sanftes Gemüt, dass er bis heute keinen Wehrdienst leisten konnte. Vater Slobodan hatte kurz zuvor behauptet, Marko habe seit Beginn des Krieges in Exjugoslawien die Uniform nicht ausgezogen.

Die Milosevic sind sich uneinig - und das gilt nicht nur für die Kernfamilie. "Die Sozialisten verlassen ihre Partei wie Ratten das sinkende Schiff", sagt Zoran Sekulic. Er hat Anfang der Neunziger Fonet, Serbiens erste unabhängige Nachrichtenagentur, gegründet. "Viele Sozialisten versuchen, möglichst unbemerkt in eine der demokratischen Parteien einzutreten, oder gründen eigene Organisationen, die sie sozialdemokratisch nennen." Derzeit gebe es sieben oder acht.

Angesichts eines zu erwartenden Resultats von um die 20 Prozent für die Sozialisten, eines internationalen Haftbefehls gegen Milosevic sowie Skandalmeldungen über die Verbrechen des Regimes verwundert die Massenflucht der Funktionäre nicht. "Viele Kollegen können sich nicht mehr erinnern, welche Ansichten sie noch vor einem halben Jahr vertreten haben", sagt Nebojsa P. Seit zwei Monaten beobachtet der Diplomat den Zerfall des Apparats des alten Regimes von innen - vom Außenministerium aus. "Immerhin: Vor lauter Angst arbeiten die meisten jetzt besser als vor dem 5. Oktober."

Für die DOS ist dieser Prozess gut, aber gefährlich. "Die neue Regierung braucht erfahrene Kader, um in die Gänge zu kommen. Jedoch verändern die früheren Sozialisten durch ihre Mitarbeit die Arbeitsweise der Kader der ehemaligen Opposition." Die Folgen: Schon toben bei DOS Verteilungskämpfe. "Djindjic Demokratische und Kostunicas Serbische Demokratische Partei haben Mandate, die sie wohl gewinnen, unter sich aufgeteilt - kleinere Gruppen in der DOS haben Angst, dass nichts für sie bleibt. Der eigentliche Machtkampf beginnt nach den Wahlen."