Die Zahl der Migrierenden auf der sogenannten Balkanroute nimmt wieder zu, seit die im Frühjahr 2020 wegen der Corona-Pandemie verschärften Grenzkontrollen im Sommer 2021 von den Staaten Südosteuropas wieder gelockert wurden. Anders als 2015 ist mittlerweile nicht mehr Ungarn das EU-Land, über das die Menschen aus von Kriegen und Krisen gebeutelten Ländern versuchen, ins vereinigte Europa einzureisen; immer immer mehr Menschen versuchen, über Kroatien ins reiche Nord- und Westeuropa zu gelangen. Das vermeldete die EU-Grenzwacht-Agentur Frontex im Juli 2021 in ihrer Jahresanalyse für 2020.
Laut Frontex stammten die meisten Migrierenden auf der sogenannten Westbalkanroute im vergangenen Jahr aus Syrien, gefolgt von Afghanistan und Irak. Die derzeitige Zunahme sei eine Folge des Staus, der sich während der Kontrollverschärfungen 2020 vor den Grenzen gebildet habe, heißt es im Frontext-Bericht weiter. Viele versuchten nun, auf kürzestem Weg auf EU-Territorium zu kommen, da sie befürchteten, dass die Grenzen bei steigenden Corona-Zahlen im Herbst wieder schärfer kontrolliert werden.
Wie viele Menschen derzeit mit Ziel Kroatien - dem ersten EU-Staat in der Region - von Serbien aus über den Grenzfluss Drina illegal nach Bosnien-Herzegowina einreisen, ist unklar. Die serbischen Behörden gehen davon aus, das sich derzeit circa 5000 Migrantinnen und Migranten im Land aufhalten. Sicher ist, dass die Menschen auf ihrem Weg Richtung EU-Außengrenze durch Gebiete reisen, in denen nach wie vor große Mengen Minen aus den Jugoslawienkriegen (1991-95) liegen.
In Bosnien ist das Zentrum für Minenräumung (Bosnia-Herzegovina Mine Action Centre, kurz: BHMac) für alle Aktivitäten verantwortlich, die mit Minen und deren Beseitigung zusammenhängen: Von der Erfassung in einer Datenbank, über die Markierung als gefährliche Gebiete, Organisierung der Räumungen, bis hin zur Ausstellung der Zertifikate, die belegen, dass eine Region von Minen geräumt wurde.
Bosnien: Bisher keine Opfer unter Migrierenden
"Opfer gab es bei uns Gott sei Dank bisher nicht," sagt Svjetlana Luledzija, die Pressesprecherin des BHMac der DW. Im Frühjahr sei ihre Einrichtung, die dem bosnischen Ministerium für Zivilangelegenheiten untersteht, von der Grenzpolizei im Osten des Landes informiert worden, dass sich in der Nähe der zentralbosnischen Stadt Tuzla eine größere Anzahl Migrierende bewege, die zuvor aufgrund des niedrigen Wasserstands die Drina überquert hätten.
"Rund um Tuzla wurde im Krieg gekämpft, darum gibt es dort besonders viele Minen", erklärt BHMac-Sprecherin Luledzija. "Obwohl die Polizei sich bemüht, schaffen sie es oft nicht, mit den Menschen in Kontakt zu treten, denn die Leute bewegen sich in der Nacht und außerhalb der Ortschaften, weil sie Angst vor der Polizei haben. Und genau dort ist es wegen der Minen am gefährlichsten."
Noch etwa 180.000 nicht explodierte Minen
Abseits von einigen Minenfeldern aus dem Zweiten Weltkrieg, stammen alle Minen in Bosnien aus dem Krieg 1992-95. Gelegt haben sie die bewaffneten Kräfte der damaligen Kriegsparteien. "Wir gehen davon aus, dass es heute noch etwa 180.000 nicht explodierte Sprengfallen in Bosnien gibt," sagt Svjetlana Luledzija. "Gefunden und beseitig wurden seit 1996 über 136.000 Minen. Betroffen sind 118 von insgesamt 145 Landkreisen."
Bosnien und Herzegowina Gornji Vakuf-Uskoplje
Seit Kriegsende wurden in Bosnien 1765 Personen durch explodierende Minen verletzt, 617 von ihnen tödlich, so die BHMac-Sprecherin weiter. Auch durch die ständige Aufklärungsarbeit des BHMac und die immer wieder erneuerten Markierungen der Minenfelder gab es in den vergangenen Jahren immer seltener Unfälle. "In den vergangenen zwei Jahren ist gar niemand mehr durch Minen verletzt oder getötet worden."
Alle Minenfelder wurden markiert
BHMac-Sprecherin Luledzija betont, dass alle Gebiete, in denen Minen liegen, klar markiert seien: "Überall an den Wegen und an vielen gut sichtbaren Stellen wurden entsprechende Warnhinweise angebracht. Aber wie gesagt, die Migrierenden bewegen sich nachts und es kann daher leicht passieren, dass sie, ohne es zu merken, in Gebiete geraten, in denen Minen liegen."
Landminen in Bosnien und Herzegowina
Sanela Lepirica ist sogenannte Feldkoordinatorin des Roten Kreuzes in der westbosnischen Gemeinde Kljuc. "Hier bei uns hält die Polizei regelmäßig Autobusse an, holt Migrierende, die auf dem Weg nach Westeuropa sind, dort raus und übergibt sie unseren Teams," berichtet sie der DW. "Wir kümmern uns um die Leute, geben ihnen zu essen und zu trinken, informieren sie über die Minen-Gefahr - und dann ziehen sie weiter nach Bihac und Velika Kladusa an der Grenzen zu Kroatien."
Ein Toter in Kroatien
Sanela Lepiricas Rotes Kreuz-Team ist genau auf der "Inter Entity Boundary Line" stationiert, der ehemaligen Frontlinie zur Zeit des Bosnienkrieges 1992-95. "Auch hier am Stadtrand und auf dem Weg in Richtung kroatische Grenze liegen Minen, weil dort damals gekämpft wurde," erklärt sie. "Dieser Weg stellt also für Migrierende eine große Gefahr dar. Wenn sie uns erzählen, dass sie durch die Wälder gehen wollen, warnen wir sie vor den Minen. Und wir hören natürlich auch immer wieder von Unglücken, etwa im Frühjahr, als eine Gruppe Afghanen auf der kroatischen Seite der Grenze in ein Minenfeld geraten ist."
Dabei lösten die Menschen Anfang März 2021 nach Angaben des kroatischen Innenministeriums einen Sprengkörper aus. Ein Mann kam ums Leben, vier weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Am folgenden Tag konnte ein Rettungsteam des kroatischen Zentrums für Minenräumung weitere neun Menschen aus einem Minenfeld befreien, in das sie sich nach der Explosion geflüchtet hatten - ohne zu wissen, in welcher Gefahr sie schwebten.
Schwer zugängliches Gebiet
"Dass das gebirgige, von Bächen und Flüssen durchzogene, schwer zugängliche Gebiet entlang der bosnischen Grenze miniert wurde, haben wir erst nach Ende des Krieges erfahren," erklärt Niksa Bogdanic, der Leiter des kroatischen Zentrums für Minenräumung, der DW. "Direkt nach der Befreiung der bis dahin von serbischen Milizen besetzten Gebiete im August 1995 haben wir uns zuerst um die bewohnten und landwirtschaftlich genutzten Regionen gekümmert. Dazu musste wir die ganze Intrastruktur erneuern, also die Straßen, das Elektrizitätsnetz - und vorher natürlich das entsprechende Gelände. Das war vorrangig, um den Leuten überhaupt zu ermöglichen, in ihre Dörfer und Häuser zurückzukehren."
App Zentrum für Minenräumung Bosnien-Herzegowina
Später habe das Zentrum für Minenräumung Kroatiens ehemalige Angehörige der feindlichen Streitkräfte engagiert, die die Räumungsteams in die entsprechenden Gebiete geführt und ihnen die dortigen Minenfelder gezeigt hätten. Mittlerweile seien alle Minenfelder markiert und er werde immer wieder überprüft, ob die entsprechenden Hinweise und Warnschilder sich dort weiterhin befinden. "Bis 2026 wollen wir auch die Grenzregion komplett von Minen gesäubert haben," so Bogdanic.
Bis dahin sollen alle Informationen zum Thema Minen öffentlich zugänglich seien. Seit 2009 betreibt das kroatische Zentrum für Minenräumung ein Web-Portal, dass monatlich aktualisiert wird; dort befinden sich laut Bogdanic viele Karten, so dass jeder Mensch, der elektronische Medien benutzt, selbst nachsehen könne, wo sich die gefährlichen Gebiete befinden. "Wenn die Seite derzeit mal nicht zu erreichen ist, liegt das an dem Server, der während des Erbebens im Januar zerstört wurde," schränkt Bogdanic ein.
Das bosnische Mine Action Centre hat zudem die App "BH Mine Supected Areas" entwickeln lassen. Dort wurden auf Basis von Open Street Maps alle Minenfelder im Land eingetragen. Die App funktioniert ähnlich wie Google Maps oder IPhone-Karten und ist für beide Betriebssysteme kostenlos.
Artikel auf Deutsche Welle