Rüdiger Rossig | Journalist | Novinar

Balkan Beats

Hipness und Hype: Rüdiger Rossig porträtiert die Subkulturen von Ex-Jugoslawien | Von Caroline Fetscher

Es ist nicht lange her, da zog es Millionen Pauschalurlauber aus dem Norden Europas nach Jugoslawien. Nicht nur Massentouristen pilgerten zu den Stränden der Adria oder schlenderten durch die alten Gassen der Küstenstädte, auch westliche Hippies, schwer motorisierte „Biker“ und Fans des Yugo-Rock genossen die Wärme, den billigen Zigaretten- und Alkoholkonsum. Trotzdem blieb das Land am südöstlichen Rand Europas den allermeisten von ihnen fremder als Ferienorte wie Mallorca, Korfu und Rimini.

Als der Staat zehn Jahre nach Titos Tod in Zerfallskriegen auseinanderbrach, konnten die meisten der früheren Feriengäste nicht begreifen, wer gegen wen und warum zu den Waffen griff. Die Gäste buchten um. Die Stunde der Diplomaten und Militärs, Politiker und Ethno-Analytiker war gekommen. Nur wenige „Zivilisten“ interessierten sich weiter für die Region, wie der Berliner Historiker und Journalist Rüdiger Rossig.

Rossig, Jahrgang 1967, war unter anderem für die Uno in Sarajewo tätig, er spricht Serbokroatisch, hat wissenschaftlich über Popmusikkultur in Südosteuropa gearbeitet und legt jetzt eine überbordend reiche Studie zu den so wichtigen und weitgehend von der Diplomatie unterschätzten oder komplett ignorierten Strömungen der Jugend- und Subkultur des Balkan vor. Eine Studie, wie sie kaum ein anderer hätte verfassen können.

Rossig widmet sich den jungen „Ex-Yugos“, den Serben, Bosniern, Kroaten, Mazedoniern, Montenegrinern, Slowenen und Kosovo-Albanern. Wie orientieren sie sich in und an den Zerfallsprodukten des Landes ihrer Eltern und Großeltern? Wie produzieren sie Neues und amalgamieren Neues mit Altem, wie navigieren sie zwischen Jugo-Nostalgie und Aufbruch, fahnden nach anderen Avantgarden und eigenen kulturellen Codes?

Inzwischen fasziniert die Vielfältigkeit dieser Gruppen auch den Westen. Rossig macht einen regelrechten „Balkan-Hype“ aus, und der „zieht sich von den Kino-Klassikern des Regisseurs Emir Kusturica über die Kompositionen Goran Bregovics bis zu den durchtanzten Nächten in Clubs in New York, London oder Paris, die Soundsystems wie Balkan Beats aus Berlin beschallen“.

Den Vorläufern dieser aktuellen Entwicklung geht Rossigs Studie zeithistorisch und analytisch nach. Mit jedem Vorkriegs- und Kriegsjahr verändern sich die Affinitäten, die Ressentiments, die Moden. Hatten jugoslawische Gastarbeiter für Kulturtransfer in beide Richtungen gesorgt und zusammen nicht nur Popmusik von „Bijelo Dugme“ – den jugoslawischen Beatles – gehört, so zerbrach die Gemeinsamkeit während der Zerfallskriege Stück für Stück.

Das ging bis zum „Krieg in den Kochtöpfen“, bei dem man in den einst jugoslawischen Restaurants verstärkt dazu überging, Nationalsymbole der jeweils eigenen Republik auszustellen, oder auf die internationale Küche der Gaststätte hinwies – um das Wort „jugoslawisch“ zu vermeiden.

Heute bemühen sich junge Migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien, jenseits von Exil-Folklore ihre eigenen Formensprachen zu entwickeln, während in Ex-Jugoslawien Symbole aus der Ära Tito teils wieder hip werden – Titos Porträt kann man sogar auf Geruchsfängern für den Autorückspiegel finden.

Rossigs Streifzüge durch die komplexe, widersprüchliche, verwundete und teils wieder wundersame Geschichte der Ex-Yugo-Kulturen und ihrer Ausprägungen – besonders in Deutschland – verdanken ihre Faszination der nahezu schlafwandlerischen Sicherheit, mit der Subkulturexperte Rossig sich bei seinem Thema auskennt – nur „aficionados“ bringen das zuwege. Hier findet man Songtexte und Plattencover, Speisekarten und Sportereignisse, Filmszenen, Werbeplakate, die Musikszenen von Belgrad, Sarajevo, Ljubljana und Zagreb, auch die Veranstaltungen zu Traumata und Flucht. Nichts, rein gar nichts, so scheint es, ist Rossig in all den Jahren entgangen.

Ein dichtes Kompendium wie dieses könnte weder ein reiner Wissenschaftler noch ein Politikexperte zusammenstellen. Zugleich gilt es zu diesem Text- und Bildband auch einen hoch interessanten, zu Unrecht unbekannten Verlag sowie eine dazugehörende Institution zu nennen: das seit 1998 existierende Archiv der Jugendkulturen in Berlin. Dort werden Fanzines und Flugblätter, Broschüren und andere Dokumente gesammelt und ausgewertet, um die sich keine offizielle Bibliothek kümmert. Auch diese kleine Schatzkammer, in der Rossigs Studie publiziert wurde, ist eine Entdeckung.

Potsdamer Neueste Nachrichten (PNN) 8.4.2009