Rüdiger Rossig | Journalist | Novinar

Nachrichten aus dem Armenhaus

Kommunalwahlen in Bosnien: Die internationale Gemeinschaft kann die Demokratie nicht erzwingen | Von Rüdiger Rossig

Zum zweiten Mal in der Geschichte Europas wurden am letzten Wochenende Finger mit unsichtbarer Tinte markiert, um WählerInnen daran zu hindern, ihr Wahlrecht mehrmals auszuüben. Solche Sicherheitsmaßnahmen sind sonst eher in der "Dritten Welt" üblich. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hatte die Tinte angefordert, nachdem einen Tag vor den lange geplanten Kommunalwahlen im ostbosnischen Brcko wie aus dem Nichts 2.918 WählerInnen auftauchten, die alle angaben, sich bei der OSZE registriert lassen zu haben, aber auf keiner Liste standen. "Technischer Fehler", hieß es im OSZE-Hauptquartier in Sarajevo - und daß so etwas nunmehr, dank der frisch eingetroffenen Tinte, nicht mehr vorkommen würde.

Die Markierung auf den Wählerfingern kann auch als Indikator gewertet werden, wohin sich Bosnien eineinhalb Jahre nach Ende des Krieges bewegt - Richtung "Dritte Welt". Durch vier Jahre Krieg ist das Land fast völlig deindustrialisiert, ohne die geringste Hoffnung, irgendwann wieder über eine eigene Industrie zu verfügen. Die Bevölkerung, die im alten Jugoslawien dazu erzogen worden war, sich für Arbeitsplätze in einer Industriegesellschaft zu qualifizieren, hat keinerlei Chance, jemals einen modernen "Arbeitsplatz" zu erhalten. Die BosnierInnen haben Angst vor einer ungewissen Zukunft und scharen sich schutzsuchend um ihre nationalen Parteien.

Die Parteien in Bosnien sind entweder völlig machtlose Gruppen von Bürgern, deren politische Aktivität weitgehend durch ausländische Hilfe finanziert wird, oder, wie im Falle der drei größten nationalistischen Parteien, irgend etwas zwischen Stammesorganisation und Gangsterbande mit eigener Polizei und Armee.

Die internationale Gemeinschaft hat dieses Problem erkannt und Maßnahmen getroffen: Über 2.500 internationale Beobachter in und um die Wahlokale, rund 2.000 UN-Polizei-Monitore, sprich kroatische, muslimische und serbische Polizisten, sowie rund 35.000 Soldaten der Nato-Friedenstruppe SFOR sicherten am letzten Wochenende den zweiten Urnengang seit Kriegsende ab. David Foley, der Pressesprecher der für die Organisierung der Wahl zuständigen OSZE-Mission, hat recht, wenn er stolz die "totale internationale Überwachung" der Abstimmung vermeldet. Tatsächlich kommt in Bosnien Demokratie aus den Gewehren der Nato-Friedenstruppe SFOR. Die BosnierInnen wollten diese Kommunalwahlen weniger. In seltener Eintracht hatten die großen nationalen Parteien im Chor mit den nichtnationalen politischen Gruppierungen im Vorfeld der Abstimmung eine Verschiebung gefordert - wenn auch aus völlig unterschiedlichen Motiven.

Für die demokratische Opposition und ausländische Kritiker dagegen ging es um die Integrität demokratischer Abstimmungen. Die Tatsache, daß die Wahlen durchgeführt wurden, zeigt, daß ihre Bedenken bei den Organisatoren keinen Anklang fanden.

Auf die Durchführung der Wahlen pochten die internationalen Organisationen in Bosnien - und ihre großteils westeuropäischen und US-amerikanischen Geldgeber. Die Situation vor Ort spielte dabei nur eine Nebenrolle. Unter dem Zwang, den internationalen Geldgebern Erfolg melden zu müssen, ging die OSZE-Mission in Bosnien am letzten Montag - also einen Tag nach den Wahlen - gar so weit, einen Beschluß der Wahlkommission per "Veto" auszuhebeln.

Eine Woche nach den Wahlen ist in Bosnien wieder Normalität eingekehrt. Die nationalen Parteien haben wieder einmal gewonnen - Ausnahmen bestätigen hierbei die Regel. So spielt der Sieg des nichtnationalen Bündnisses "Vereinigte Liste 1997" im nordostbosnischen Tuzla sicher im dortigen Kanton eine große Rolle. Viele Tuzlaner hatten befürchtet, daß die muslimisch-nationalistische Partei SDA nach knapp zwei Jahren massiver Ansiedlung muslimischer Flüchtlinge die Macht von Bürgermeister Selim Beslagic und dessen "Vereinigter Liste 1997" brechen könnte.

Doch das Ergebnis - Beslagic lag nach inoffiziellen Vorergebnissen zwei zu eins vor seinen Herausforderern - beweist lediglich, daß eine funktionierende Stadtverwaltung auch von aus ländlichen Gebieten kommenden muslimischen Flüchtlingen gewürdigt wird. Außerhalb Tuzlas gewann die "Vereinigte Liste" selten mehr als fünf Prozent. Zweitstärkste Partei - nach den jeweiligen nationalen Parteien: der kroatischen HDZ, der muslimischen SDA und der serbischen SDS - wurde fast überall die exkommunistische Sozialdemokratische Partei SDP. Zum Regieren jedoch reicht es den GenossInnen nirgends.

Statt eines vereinigten demokratischen Staates haben die BosnierInnen durch die Kommunalwahlen allenfalls ein Bosnien der politisch-nationalen Regionen erhalten. In diese Richtung weisen auch die Ergebnisse aus dem heute kroatisch kontrollierten, ehemals 95 Prozent serbischen Drvar, wo serbische Vertriebene am letzten Wochenende zu Tausenden mit Bussen angereist waren und die örtliche HDZ natürlich abwählten.

In Drvar und einigen anderen Orten - der Ex-UN-"Schutzzone" Srebrenica etwa - ist das nächste praktische Problem der internationalen Organisatoren nun, solche Ergebnisse durchzusetzen. Sicher ist, daß die internationale Gemeinschaft die Wahlsieger weder mit Gewalt in Amt und Würden einsetzen kann noch will.

Letztendlich belegen beide Nachkriegswahlen in Bosnien - also die Kommunalwahl vom letzten Wochenende und die landesweiten Abstimmungen vom Herbst 1996 -, daß sich die Macht der nationalistischen Parteien unter den gegebenen Bedingungen nicht per Mehrheitsentschluß brechen läßt.

Was die BosnierInnen wirklich brauchen, ist eine nichtnationale Perspektive. Und dafür braucht es einerseits mindestens eine politische Partei, die, pardon: deren Mitglieder die nationalen Grenzen sprengen wollen. Und andererseits eine internationale Gemeinschaft, die nicht auf perfektes Krisenmanagement stolz ist, sondern in eine demokratische Zukunft Bosniens vor allem wirtschaftlich investiert.

Die Alternative dazu heißt auf unabsehbare Zeit international total überwachte Demokratie auf wirtschaftlichem "Dritte Welt"- Niveau, ähnlich wie in Albanien, dem "Armenhaus Europas". Übrigens das erste Land unseres Kontinents, in dem WählerInnenfinger mit Tinte markiert worden waren.