Rüdiger Rossig | Journalist | Novinar

Irgendwer spricht Deutsch

Das Buch "Sehnsucht im Koffer" erzählt Geschichten zwischen Kosovo und Deutschland | Von Rüdiger Rossig

Einwanderer vom Balkan - das sind für die meisten in Deutschland Gastarbeiter aus Bosnien, Kroatien und Serbien, die seit den späten 1960ern ins reiche Westdeutschland kamen. Manche wissen, dass es auch Mazedonier, Montenegriner und Slowenen unter den "Jugos", den Südslawen, gibt. Aber Albaner?

Bei Albanern denken die Älteren hierzulande eher an das Ausreiseverbot, das im Staate Enver Hoxhas bis 1989 galt. Und die Jüngeren an die Flüchtlinge, die im Zuge der Kosovokrise Ende des 20., Anfang des 21. Jahrhunderts zeitweise in Deutschland lebten. Aber die albanische Migration der vergangenen 50 Jahre ist viel vielfältiger.

Seit dem Anwerbeabkommen von 1968 kamen rund 300.000 Albaner aus dem Kosovo, dem Armenhaus Jugoslawiens, zum Arbeiten in die Bundesrepublik. Eigentlich wollten und sollten sie nur kurz bleiben - doch viele sind bis heute hier. Später, in den 1990ern, suchten Hunderttausende Zuflucht vor Unterdrückung und Krieg in der südserbischen Provinz - oftmals bei der Gastarbeiterverwandtschaft in Deutschland. Dank Familienzusammenführung, Ausbildungs- und Studienaufenthalten hält die kosovarische Migration bis heute an. Gute 15 Prozent der heute 1,8 Millionen Einwohner des mittlerweile souveränen Landes haben zeitweilig in der Bundesrepublik gelebt. Das hat Spuren hinterlassen: Fünf Jahre nach der Unabhängigkeit von Serbien spricht selbst in den entlegensten Winkeln von Europas jüngstem Staat immer irgendwer Deutsch, oft mit bayrischem, schwäbischem oder Berliner Akzent.

In "Sehnsucht im Koffer" berichten sechs Männer und drei Frauen aus sehr unterschiedlichen Migrationszeiten. Die Älteren verließen den friedlichen, aber bettelarmen Süden Jugoslawiens auf der Suche nach einem besseren Leben; die Jüngeren flohen vor staatlicher Repression und ethnischer Säuberung. Unter ihnen: Analphabeten und Intellektuelle, Hilfsarbeiter und Handwerker, Dörfler und Städter, Kriminelle und brave Bürger. Wenn sie ihr Leben erzählen, erzählen sie 50 Jahre deutsch-kosovarische Geschichte mit.

Befragt wurden sie aus kosovarischer und aus deutscher Sicht. Die erste Perspektive ist die des 1977 im Kosovo geborenen Autors und Theatermachers Jeton Neziraj. Für den zweiten Blick steht Timon Perabo, 1978 in Marburg geboren, Soziologe und Politikwissenschaftler. Er hat lange im Kosovo gelebt und einen tiefen Blick ins Leben der Menschen dort geworfen - und in das der Kosovaren in der deutschen "Diaspora".

Zu den Porträts haben die Autoren einen historischen Überblick von Verena Knaus vom Thinktank European Stability Initiative gestellt. In einem Briefwechsel diskutieren Neziraj und Perabo, ob sie das Ziel ihres Buchs erreicht haben: die Migration zwischen Kosovo und Deutschland aus möglichst vielen unterschiedlichen Blickwinkeln zu beschreiben. Die Antwort des Rezensenten: ein klares Ja. "Sehnsucht im Koffer" bietet zahlreiche, tiefe, spannende Einblicke in die Community der anderen, nicht südslawischen Jugos.

Timon Perabo, Jeton Neziraj: "Sehnsucht im Koffer. Geschichten der Migration zwischen Kosovo und Deutschland." Bebra Wissenschaft, Berlin 2013, 224 Seiten, 19,95 Euro

taz, die tageszeitung