Rüdiger Rossig | Journalist | Novinar

Der Balkan ist keine Insel

Kosovo: Welche Kriegsziele verfolgen Milosevic und die Nato? | Von Vidosav Stefanovic

Auf dem Balkan wird heute ein unerklärter Krieg geführt - "unerklärt", weil die politischen, wirtschaftlichen oder zivilisatorischen Ziele dieses Krieges nicht bekannt gemacht werden. Und weil dieser Krieg keine sichtbaren Ziele hat, die man kritisieren, verändern oder den Umständen anpassen könnte, produziert er letztendlich nichts als Zerstörung, Verbrechen, Gewalt gegen Unschuldige und Ungeschützte, Elend, mediale Gleichschaltung und neue Not. Die Konfliktparteien sind bekannt, aber sie verbergen ihre Absichten und verschleiern ihre Ziele.

Das totalitäre Regime in Belgrad - verkörpert durch Slobodan Miloevic - stellt die derzeitige Bombardierung Serbiens als Versuch des Westens dar, das serbische Volk, seine Tradition und Kultur zu vernichten. Die Folgen für den Staat Serbien sind schon jetzt sichtbar: Die Wirtschaft ist zerstört, die unabhängigen Medien verboten, die Stimmen der freien Menschen verstummt - das unverantwortliche Regime dagegen bleibt unberührt in seiner Brutalität. Der serbische Nationalismus ist auf seinem irren Gipfel angelangt.

Die westlichen Regierungen - verkörpert durch die kein bißchen sympathischere Nato - verkünden, die Militäraktionen fänden statt, um eine humanitäre Katastrophe im Kosovo aufzuhalten: die ethnische Vertreibung der Albaner durch die Helfershelfer des Regimes, Polizei und Milizen. Auch hier sind die Folgen deutlich sichtbar und allgemein bekannt: Statt die humanitäre Katastrophe abzuwenden, haben die Luftangriffe sie angeheizt. Hunderttausende unglückliche Flüchtlinge haben Albanien, Makedonien und Montenegro überschwemmt. Die politische, wirtschaftliche und militärische Instabilität des Balkans ist bis auf weiteres zum Dauerzustand geworden. Der albanische Nationalismus nähert sich seinem Gipfel, freilich ohne dabei irgendwelche sinnvollen Lösungskonzepte zu entwickeln - weder für seine eigene Nation noch für die in der Nachbarschaft. Deren Nationalismen wachsen ebenfalls weiter und warten auf ihre Chance.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß keine der Konfliktparteien die ganze Wahrheit über ihre Ziele sagt - oder daß sie in Ermangelung besserer Ausreden einen Teil dieser Wahrheit für sich behalten. Denn das Regime Slobodan Miloevics verteidigt natürlich nicht die Serben und deren Kultur und Tradition, wie die Propaganda glauben machen will. Ihm geht es nur um die eigene, längst korrumpierte Macht. Indem Miloevic seine Macht rücksichtslos verteidigt, schädigt er ständig die wahren Interessen des serbischen Volkes: den Frieden mit den Nachbarn und die baldige Teilnahme am Aufbau Europas.

Die westlichen Regierungen, unvergleichlich liberaler als ihr Widersacher, haben sich in ihre eigenen Irrtümer wie in einer Falle verstrickt, weil sie diese nicht zugeben wollen. Sie haben erstens spät, zu spät, einige Jahre zu spät interveniert. Ebenso unumkehrbar und falsch ist zweitens, daß sie das Leid der Unschuldigen vergrößern, statt die Schuldigen zu strafen. Und drittens haben sie zu lange mit einem Halb-Diktator verhandelt, der jetzt, zu einem guten Teil dank ihrer Hilfe, ein ganzer Diktator geworden ist - und nun plötzlich nicht mehr mit ihnen verhandeln will.

Trotz all dieser pessimistischen Prämissen ist meine Schlußfolgerung jedoch nicht nihilistisch. Denn die derzeitige Situation auf dem Balkan bedeutet nicht das Ende der Zivilisation. Sowohl das serbische als auch das albanische Volk werden überleben, auch wenn ihre jeweiligen Extremisten alles tun, um beide zu vernichten.

Die Bewohner des Balkan werden einsehen, daß sie ein Teil Europas sind, daß sie aus ihrer Halbinsel keine Insel machen können. Die Europäer werden begreifen, daß die Balkanvölker ihre Nachbarn sind. Vielleicht werden sie sogar verstehen, daß die Menschen Südosteuropas so sind, wie sie selbst einmal waren - in einer früheren Zeit. Und daß es keinen Sinn macht, zukünftige Mitglieder der eigenen Gemeinschaft unter dem Schatten einer neuen Berliner Mauer aufwachsen zu lassen.


Der Autor lebt als Schriftsteller in Frankreich

Aus dem Serbischen von Rüdiger Rossig