Rüdiger Rossig | Journalist | Novinar

FU Berlin

Lehrstuhl für südosteuropäische Geschichte, Rezension 65

Rüdiger Rossig, ein Berliner Journalist mit ausgeprägtem biografischen und professionellen Bezug zum ehemaligen Jugoslawien, hat ein ungewöhnliches Buch geschrieben. Es verbindet drei jugoslawische Themen, die üblicherweise getrennt behandelt werden: Staatszerfall, Migration und Musikszene. Über den ersten Komplex ist enorm viel geschrieben worden, so dass von diesem für ein breites Publikum geschriebenen Band nicht viel Neues erwartet werden darf. Mit der Migration befindet sich Rossig gut im Trend, mit der Rockmusik in einer ausgesprochenen Nische. Am stärksten ist das Buch da, wo die Themen miteinander verbunden werden – wenn es die Haltung der ehemaligen Jugo-Rocker zu Staatszerfall und Krieg beschreibt oder wenn es erklärt, welche Bruchlinien zwischen den ehemaligen Arbeitsmigranten und den kreativen Kriegsflüchtlingen in Deutschland verlaufen. Der bleiwüstengeschädigte akademische Leser freut sich über die vielen Bilder. Die Schwarz-Weiß-Fotos stammen größtenteils von dem Berliner Bosnier Nihad Nino Pušija und geben sehr vielfältige Einblicke. Sie zeigen Rockkonzerte und religiöse Versammlungen, müde Migranten und fröhliche Bohemiens, zerstörte Häuser in Bosnien und Szenelokale in Berlin, die karge Küche im Flüchtlingswohnheim und den großen Grillteller im Balkanrestaurant. Und immer wieder präsentieren sie die Heldinnen und Helden des Autors – Angehörige einer anti-nationalistischen Diaspora ohne Mutterland, einer großen Familie jenseits biologischer Verwandtschaft.

Die jugoslawische Musikszene verdankt ihre Existenz der liberalen Kulturpolitik des Titoismus. Der Staat mischte sich kaum in die Kultur ein, so dass die Musiker ihre Fühler bis weit in den Westen ausstrecken und sämtliche Strömungen aufnehmen konnten. Sie waren sich ihres Privilegs wohl bewusst, schließlich konnten sie straflos komponieren und spielen, wofür ihre Kollegen in den meisten Warschauer-Pakt-Staaten als bourgeois und dekadent verfolgt worden wären. Sie waren daher loyal. Trotz gelegentlicher Kritik an Parteiherrschaft und Tito-Kult fühlten sie sich wohl in Jugoslawien, bekamen Jugoslawismus und Kosmopolitismus bequem unter einen Hut. Selbst das krisengeschüttelte Jugoslawien der 80er Jahre war „von den Subkulturen aus betrachtet (...) ein wunderbarer Ort.“ (53) Mit der nationalen Mobilisierung nach Titos Tod konnten sie dagegen nichts anfangen, vor allem in Miloševićs Serbien entfremdeten sie sich radikal vom herrschenden Diskurs. Ihr Wunsch zum Kriegführen für die eigene Nation ging oft gegen Null. Die Musiker waren an kosmopolitische Aussichten gewöhnt und brauchten Jugoslawien als Wirkungsraum; die weitaus kleineren, verarmten Nachfolgestaaten mit ihrem dominanten ethnonationalen Diskurs waren kein gutes Wirkungsfeld mehr für sie. Viele flüchteten, insbesondere aus Städten wie Belgrad und Sarajevo, wo sie Platz machten für die nachrückende Landbevölkerung und deren volkstümlich-nationalen Musikgeschmack. So entstand die deutsche Jugo-Szene: „Der Krieg hat Jugoslawien zerstört – und die jugoslawische Kultur mit den Menschen, die vor ihm flohen, internationalisiert.“ (8) Rossig behandelt den Berliner Teil dieses Phänomens ausführlich; andere Autoren werfen Schlaglichter auf weitere Regionen (Jons Vukorep schreibt zu Hamburg, Danko Rabrenović zum Ruhrgebiet, Karolina Novinščak zu München).

In Deutschland waren die YU-gos, wie Rossig die Flüchtlinge nennt, aber nicht die ersten Ex-Jugoslawen. Sie trafen auf Gastarbeiter, die längst keine Gäste mehr waren, und deren Kinder. Die meisten Arbeitsmigranten hatten Jugoslawien aus einer ganz anderen Perspektive kennengelernt – als Bewohner schwach entwickelter ländlicher Räume, wo man die gebildeten Stadtbewohner mal bewunderte, mal beneidete, oft aber einfach nicht verstand. Sie waren es gewöhnt, am unteren Ende der menschlichen Bedürfnispyramide zu laborieren – erst das Materielle, dann der Rest. Autos und ein eigenes Haus im Heimatdorf waren wichtiger als die weltweite Suche nach Geistesverwandten. Ihr kulturelles Leben spielte sich in Gastarbeitervereinigungen ab, nicht selten im Rahmen eigener Migrantenkirchen. Rossigs Helden betonen den Unterschied zwischen sich selbst und den Arbeitsmigranten. Der Autor ist sich aber sicher, auch letztere seien stets jugoslawisch orientiert gewesen und erst in den 1990er Jahren in den Sog nationaler Propaganda geraten (85). Teilweise mag das stimmen, aber nationale Risse waren in der Gastarbeiter-Community auch schon vorher zu erkennen. Landsmannschaftliche Bindungen spielten hier immer eine große Rolle, hinzu kam gerade bei den Kroaten eine von eigenen Pfarrern getragene katholische Seelsorge, die das Nationale durchaus betonte. Das Bild von der einheitlichen Jugo-Migrantenkultur war von der jugoslawischen Regierung gewollt. Dass es sich auch in der unaufmerksamen deutschen Öffentlichkeit durchsetzte, macht es nicht richtiger.

Zwischen den autoverliebten Folklorehörern und den Joint rauchenden Rockern gibt es durchaus Überschneidungen. Da ist etwa das gelungene Porträt der Berliner Aktivistin Bosiljka Schedlich, die 1968 als Gastarbeiterin aus dem dalmatinischen Split nach Westberlin kam, neben der Fließbandarbeit ihr Deutsch perfektionierte, schließlich an der Freien Universität Literatur und Philosophie studierte und 1991 einen bekannten Kulturverein gründete, der Menschen aus ganz Südosteuropa offen steht (29–34). Oder Kris Miko, der als Sohn kroatischer Arbeitsmigranten im Münsterland zur Welt kam, sich später von seiner Familie distanzierte und heute die Ex-Jugo-Kultur in Nordrhein-Westfalen wach hält (149–152). Viele Bohemiens haben in der Emigration ähnliche Erfahrungen gemacht wie die Gastarbeiter, sie lernten das untere Ende der Bedürfnispyramide kennen, hatten Probleme mit Sprache, Geld, Arbeit und Visum. Einige haben nach Jahrzehnten internationalen Musikgeschmacks nostalgische Gefühle für die Folklore entwickelt oder sind vor Heimweh zurückgekehrt. Außerdem gehören keineswegs alle Kriegsflüchtlinge zur kreativen Intelligencija, es kamen auch religiöse „Landeier“ und andere normale Menschen. Rossig erwähnt das auch (103, 129-135), aber insgesamt kommt der Aspekt ein wenig zu kurz.

In die Zukunft schaut Rossig mit gemischten Gefühlen. Sowohl die Kinder der Arbeitsmigranten als auch die geflüchteten Musiker integrieren sich. „Viele Angehörige der ex-jugoslawischen Rockszene spielen vielerorts – treten dort nicht als Ex-Jugoslawen auf, sondern als individuelle Musiker, Produzenten, Songwriter, Techniker, Veranstalter oder Moderatoren. Das mag für den Einzelnen durchaus positiv sein. Für die lokale Szene Südosteuropas aber sind die meisten dieser Aktivisten verloren.“ (113) Rossig ist allen dankbar, die dabei bleiben und „uns nordosteuropäischen Kaltblütern südosteuropäische Klänge präsentieren“. Gleichzeitig warnt er die hiesigen Hörer vor einer rein ästhetischen Haltung zur Ex-Jugokultur. Als politischer Mensch wünscht er sich, dass die Kultur auch ein Interesse an der Region als solcher wach hält. Für ihn ist die Jugo-Szene nur einer von vielen Hinweisen, dass zwischen den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien nach wie vor starke Gemeinsamkeiten bestehen. Die EU solle das für ihre Integrationspolitik nutzen (165). Ob sich das durchsetzen lässt auf einem politischen Feld, wo die EU vor allem ihre eigenen externen Kriterien anlegt und jeder Beitrittskandidat für sich um die europäische Gunst kämpft, ist eine offene Frage.

Rüdiger Rossig: (Ex-) Jugos. Junge MigrantInnen aus Jugoslawien und seinen Nachfolgestaaten in Deutschland. Berlin: Archiv der Jugendkulturen Verlag 2008, 174 Seiten, ISBN 978-3-940213-46-4, 20 €
Rezensiert von Klaus Buchenau (Berlin)
FU Berlin, Lehrstuhl für südosteuropäische Geschichte, Rezension 65 25.03.2009