"Muss Europa deutsch werden?" Die Frage macht mich schaudern. Sie mieft nach "Am deutschen Wesen soll die Welt genesen". Der Satz wird meist Wilhelm Zwo zugeschrieben, der den 1. Weltkrieg auslöste. Bilanz: mindestens 14 Millionen Tote.
Tatsächlich schrieb die Zeile der Dichter Emanuel Geibel (1815-1884), als Spätromantiker ein Vertreter des deutschen Pendants zum "Empire Spirit" - der Ideologie, mit der Englands Oberschicht ihre Herrschaft über das britische Weltreich begründete. Die Frage "Muss Europa deutsch werden?" stinkt also nicht nur nach Nationalismus und 19. Jahrhundert. Sie stammt aus ebendieser Mottenkiste.
Daher weht der Wind derzeit auch bei einigen zeitgenössischen Politikern. CDU-Fraktionschef Volker Kauder meint zwar nur, in Europa würde jetzt "deutsch gesprochen". Angesichts der intellektuellen Schlichtheit der Metapher - es ging um die Durchsetzung von Merkels Sparpolitik - möchte man sich eigentlich beschämt abwenden und das Ganze vergessen. Wäre da nicht der Applaus der Öffentlichkeit.
In Krisenzeiten bröckelt beim modernen Menschen das Selbstbewusstsein. An seine Stelle tritt Angst vor sozialem Ausschluss. Um dem zu entgehen, ziehen sich Viele auf ihre Nationalität zurück. Gebildete Menschen finden das lächerlich - so wie die kritischen Intellektuellen im Jugoslawien der späten 1980er. Angesichts des aufkommenden Nationalismus wanden sich die Meisten angeekelt ab, statt die Nationalisten zu bekämpfen. Bilanz: mindestens 120.000 Tote.
Dieser Verlauf ist kein balkanisches Spezifikum. Sondern eine Wiederholung der Geschichte Europas en miniature. Es ist also keine Überreaktion, wenn es mich bei "Muss Europa deutsch werden?" schaudert. Jeder Europäer sollte beginnen, seine Koffer zu packen, wenn nationale Fragen gestellt werden. Wir wissen aus Erfahrung, wohin das führt.