Leipzig. Der Springerstiefelträger, der am Samstag gegen 19 Uhr den Dreißigjährigen Gerhard Sch. aus der Straßenbahn Nummer siebzehn getreten und lebensgefährlich verletzt hatte, trug zwar Tarnhosen und einen Pullover mit aufgedrucktem Reichsadler. Weitere Hinweise auf eine Zugehörigkeit zu irgendeiner Jugendszene sind für die Leipziger Polizei verfrüht - besonders in Anbetracht des Alters. Der Aufmacher der nach eigenen Angaben "größten Tageszeitung Deutschlands" am Mittwoch, bei dem Täter habe es sich um einen Skinhead gehandelt, wird in keiner von der Leipziger Polizei veröffentlichten Stellungnahme bestätigt. Das von seiner Lebensgefährtin identifizierte Opfer ist, entgegen anderslautenden Meldungen, nicht tot, sondern liegt mit Schädeltrauma im Sankt-Georg-Krankenhaus. Der Täter, ein Mittdreißiger mit tätowiertem Gesicht, ist der Leipziger Polizei bekannt. Nach ihm wird in ganz Sachsen gefahndet. Nach Angaben der Leipziger Kriminalpolizei hatten sich Täter und Opfer bereits vor der eigentlichen Tat lautstark und handgreiflich auf dem Bahnhofsvorplatz gestritten. Dabei war Gerhard Sch. schon einmal von seiner Sitzbank im Wartehäuschen gefallen. Als der "Skinhead" in die Straßenbahn eingestieg, versuchte Sch., ihm zu folgen, was ersterer mit einem Stiefeltritt zu verhindern wußte. Seine Verletzungen zog sich Gerhard Sch. auf dem Pflaster des Bahnhofsvorplatzes zu. Der Grund der Auseinandersetzung ist nach wie vor unklar, da Sch. aufgrund seiner Bewußtlosigkeit bis heute morgen noch keine Aussage machen konnte.
Zu den widersprüchlichen Meldungen der Leipziger Polizeipressestelle war es gekommen, weil die Kripo zur Zeit umzieht und nicht alle eingehenden Akten einsehbar sind. Die Identifizierung des Täters war möglich, weil er sich nach der Tat mit dem Straßenbahnfahrer unterhalten habe, so der Diensthabende im Polizeikreisamt Leipzig. Die Polizei wurde erst vom Fahrer der nachfolgenden Straßenbahn verständigt, weil dieser einen Unfall vermutet hatte. Generell diagnostiziert die Leipziger Polizei laut Sprecher Gasenbeck seit einem halben Jahr eine abnehmende Tendenz bei gewalttätigen Straftaten durch Rechtsextremisten. Der Dienstgruppenleiter der Wache Ritterstraße, die für die Gegend um den Hauptbahnhof zuständig ist, vermutet eher eine Schlägerei zwischen Betrunkenen, wie sie am Bahnhof täglich mehrmals vorkomme, denn einen politischen Fall. Trotz dieser Tendenz will Sachsens Innenminister eine Sicherheitskonferenz in Leipzig einberufen, die sich mit der steigenden Kriminalität, besonders durch politische Extremisten, befassen soll. Die Ruhe in Leipzig resultiert nach Szeneangaben nicht aus gesunkenem Interesse an faschistischer Ideologie, eher aus der strategischen Verlagerung der Neonazis nach Dresden, Cottbus und Weimar. Neuen Aktivitäten werden überall, besonders nach dem Mord an dem Neonazi und Kühnen-Vertrauten Sonntag vor einer Woche befürchtet. Sachsen hatte am Donnerstag die Gründung einer Sonderkommission "Politische Extremisten" angekündigt.