Die Mischung macht's – das belegte die Podiumsdiskussion "Kroatien: Zwischenhalt oder Endstation der EU-Erweiterung auf dem Westbalkan?" Die Debatte, die sich am Abend des 18. Oktober entwickelte, bezog ihre Dynamik vor allem aus der Zusammensetzung des von Doris Akrap moderierten Podiums. Dort saßen neben der taz-Redakteurin mit der Grünen Bundestagsabgeordneten Marieluise Beck, dem Abteilungsleiter EU-Erweiterung im Auswärtigen Amt, Christoph Retzlaff und Kroatiens Ex-Präsidenten Stjepan Mesic nicht nur Deutsche und Kroaten - sondern mit Zlatko Dizdarevic auch einer der klügsten politischen Köpfe Bosnien-Herzegowinas. Hinzu kam ein Überraschungsgast: Dr. Norbert Lammert (CDU), Bundestagspräsident und vehementer Kritiker weiterer EU-Erweiterung.
Dem bunten Mix entsprechend drehte sich die Diskussion um weit mehr als die im Veranstaltungstitel genannte Frage. Dabei wurde deutlich, dass Kroatiens Beitritt am 1. Juli 2013 die Realitäten auf dem Westbalkan grundlegend verändert; dass es dort nach wie vor ein nicht zu unterschätzendes Gewaltpotenzial gibt; und, dass sich neben Europa auch andere globale Spieler für Bosnien, Serbien, Montenegro, Makedonien und Kosovo sowie Albanien interessieren.
Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, macht in seiner Einleitung klar, dass die EU derzeitig erstmalig in ihrer Geschichte scheitern könnte. Anschließend sprach sich Stjepan Mesic, von 2000 bis 2010 Präsident Kroatiens, vehement gegen einen "neuen Eisernen Vorhang Schengen-Europas" an der zukünftigen, kroatischen EU-Außengrenze zu Serbien, Bosnien-Herzegowina und Montenegro aus. "Zweck der Gründung des eigenständigen kroatischen Staates war so wenig eine dauerhafte Loslösung von den Nachbarstaaten, wie der EU-Beitritt eine Flucht vom Westbalkan," so Mesic. Das neue, 28. EU-Mitglied wolle nicht nur Markt und Arbeitskräfte-Reservoir der EU sein, sondern sich reindustrialisieren, zum Exportland werden und die Union weiterentwickeln. Dazu gehöre, den Nachbarn auf dem Weg nach Europa zu helfen.
Erstaunlicherweise steht dem seitens Norbert Lammerts nicht entgegen. Der Bundestagspräsident, der sich kurzfristig zur Teilnahme bereit erklärt hatte, hatte noch eine Woche zuvor in einem Interview mit der Tageszeitung "Welt am Sonntag" den EU-Beitritt Kroatiens in Frage gestellt. Am Donnerstag sagte der Bundestagspräsident nun, seine Skepsis bezüglich weiterer Erweiterungen stünde "in keinem Zusammenhang mit dem kroatischen Beitritt". Das Land habe bereits einen beachtlichen Teil der Beitrittskriterien erfüllt. "Das unterscheidet Kroatien vorteilhaft von anderen Beitrittsländern zu einem vergleichbaren Zeitpunkt." Eine Diskussion über eine Verlegung des kroatischen Beitrittstermins lehnte der CDU-Politiker ab.
Anschließend aber brauche die EU eine Ruhepause, um ihre innere Verfassung zu konsolidieren. Die Eurokrise sei nicht nur Folge verselbstständigter Finanzmärkte. "Die Gemeinschaft müsste einen Großteil ihrer Finanzprobleme nicht haben, wenn sie die Regeln eingehalten hätte, die sie selbst vereinbart hat", so Lammert. Vor weiteren Aufnahmen müsse sich die EU mit ihrer internen "Schieflage zwischen ökonomischer und politischer Integration" beschäftigen.
Zudem dürften sich die Fehler, die bei Bulgarien und Rumänien gemacht wurden, nicht wiederholen. Dort seien die zuvor abgesprochenen Voraussetzungen für die EU-Mitgliedschaft nicht vor dem Beitrittstermin überprüft worden – und danach hätten die dortigen innenpolitischen Kräfte kein Motiv mehr gehabt, ihre Staaten weiter im Sinne der EU zu reformieren.
Dass am Beitrittsverfahren seit der Aufnahme Bulgariens und Rumäniens bereits eine Menge verändert wurde, berichtete im Anschluss Christoph Retzlaff vom Auswärtigen Amt. Der Fortschrittsbericht, auf den sich Lammert bezogen hatte, sei Teil eines Vor-Beitritts-Monitorings: Die EU-Kommission muss von der Zusage der Mitgliedschaft an bis zum Datum der Aufnahme alle sechs Monate über Defizite berichten, die noch abgearbeitet werden müssen.
Im kroatischen Fall ginge es um technisch-administrative Fragen, etwa mehr Grenzkontrollstellen, Verbesserungen in Justiz und Verwaltung oder die Privatisierung von Werften. "Im Bericht vom 10. Oktober sind das zehn Punkte, " so Retzlaff, "beim letzten Bericht waren es noch 49., Kroatien ist auf einem guten Weg."
Eines der kroatischen Defizite heißt Neum. Das Gebiet der bosnischen Adriastadt zerschneidet ab 1. Juli 2013 EU-Territorium. Der bosnische Journalist, Diplomat und Politik-Analytiker Zlatko Dizdarevic zeigte sich sicher: "Wenn da ohne vernünftige Absprache eine EU-Außengrenze entsteht, dann kann Bosnien nur noch rohe Tierhäute und Flussfisch in die EU einführen. In derselben Nacht würde eine neue Mafia entstehen, die sofort beginnen würde, Containerweise Käse aus Bosnien nach Kroatien zu schmuggeln. Und danach mit sehr viel ernsthaften Aktivitäten."
Der Beitritt Kroatiens sei verdient und stimuliere die EU-Anstrengungen der anderen Staaten des Westbalkan, so Dizdarevic, der als Mitglied der Foreign Policy Initiative Sarajevo im Frühjahr eine Analyse über die Folgen des kroatischen EU-Beitritts für die Nachbarländer verfasst hat. Aber er zerreiße auch eine Region, die jahrzehntelang eine Symbiose bildete.
"In den 70 Jahren des gemeinsamen jugoslawischen Staates sind enge Verbindungen entstanden. Nach wie vor gibt es ein Transportsystem. Bosnier, Kroaten, Montenegriner und Serben sprechen dieselbe Sprache. Ich selbst habe seit 30 Jahren ein Wochenendhaus an der kroatischen Küste – so wie ca. 250.000 andere bosnischer Staatsbürger, die Land, Firmen und Familie in Kroatien haben."
Viele in den Anrainerstaaten empfänden den kroatischen EU-Beitritt nicht als Erweiterung der EU, sondern als Abschied vom Westbalkan. Für die Zurückgebliebenen gäbe es nur zwei Möglichkeiten: "Entweder wird ihnen ermöglicht, ebenfalls Teil des EU-Koordinatensystems zu werden. Oder sie werden sich anderen geostrategischen Möglichkeiten hingeben müssen."
Dafür kämen drei große, mächtige, reiche Spieler in Frage: Russland, China und die Türkei, letztere "vielmehr als die meisten wissen, besonders in Bosnien, aber auch im Kosovo." Das sei weniger ein Problem des Westbalkans als der EU, die kein Interesse an einer dauerhaften Bindung Südosteuropas an andere Staaten und Staatenbündnisse haben könne.
Das besten Mittel, um den Euro-Optimismus auf dem Westbalkan wach zu halten, sei Hoffnung: "Wenn die Leute ein Projekt haben, dann bleibt die EU-Perspektive attraktiv. Wenn – wie in den letzten Monaten – die Regierungschefs großer Mitgliedsländer öffentlich sagen, dass es nach dem Beitritt Kroatiens keine neuen Mitglieder mehr geben wird, nicht." Der Applaus machte deutlich, dass Dizdarevic einen Nerv getroffen hatte.
Marieluise Beck verglich die Situation der Anrainer Kroatiens vor dem EU-Beitritt mit der von Belarus vor Polens Beitritt zum Schengen-Raum. Während Europa feierte, war dort für Menschen die Visapflicht in Kraft getreten, die bisher im kleinen Grenzverkehr problemlos die polnische Grenze übertreten konnten.
Für den Balkan könne eine solche Entwicklung fatale Folgen haben. "Die Region ist krisenhafter und instabiler, als wir uns eingestehen, " so Beck, "und die historische Erfahrung zeigt, dass Krisen, die dort ihren Anfang nehmen, uns immer erreichen." Bosnien, Kroatiens direkter Nachbar, stehe 17 Jahre nach Kriegsende vor dem endgültigen Zerfall - und werde dabei von Europa im Stich gelassen.
"Einerseits sollen die Bosnier ihre Probleme selbst lösen", so Beck, die Vorsitzende der Parlamentariergruppe Bosnien und Herzegowina im Bundestag ist. "Gleichzeitig wird ihnen suggeriert, dass sie in absehbarer Zeit keine EU-Aufnahmeperspektive haben. Das ist ein skandalöser Widerspruch." Der EU-Beitritt Kroatiens mache etwas mit dem Rest Ex-Jugoslawiens. Schon deshalb müsse die Union dem Balkan eine Perspektive bieten.
Aktuell fördere die Konzeptlosigkeit der EU die schlechten Zustände auf dem Balkan, so Zlatko Dizdarevic. Seit Jahren forderte die Union die Bosnier auf, sich zu verständigen – dabei habe doch deren Unvermögen, genau dies zu tun, schon 1992 zum Krieg geführt.
Das Zustandekommen des Friedens von Dayton 1995 beschrieb der Analytiker so: "Es hieß: Am Freitag unterschreibt ihr, dass ihr den Krieg beendet. Samstag wird gefeiert. Und am Montag setzt ihr euch hin und redet ernsthaft über euren zukünftigen Staat. Am Freitag wurde unterschrieben. Am Samstag gefeiert. Am Sonntag sind alle nach Hause gefahren. Und da sind sie bis heute geblieben."
Das heutige Bosnien sei "Frankensteins Monster: Künstlich zusammengesetzt aus Teilen nicht zusammengehörender Körper." Doch damit wolle sich niemand im Westen beschäftigen. "Europa hat Bosnien den USA überlassen", so Dizdarevic. "Die halten Dayton für einen großen Erfolg, den sie nicht aufgeben wollen. Deshalb stehen wir heute da, wo wir sind. Und werden uns wieder alle wundern, wenn es zur nächsten Krise kommt."
Mit Serbien habe die EU bis heute nicht ehrlich darüber geredet, was dort seit 1991 passiert sei. Auch deshalb sei der gewendete Ultranationalist Nikolic gewählte worden. Makedonien, das bisher niemand erwähnt hatte, sei ein Pulverfass. "Im Kosovo und in Albanien glauben viele Leute, sie seien kurz davor, diese beiden Länder zu vereinigen und als nächstes einen Teil Makedoniens anzuschließen."
Bezüglich der EU-Prioritäten stimmte Dizdarevic Lammert zu: "Es kann keine gemeinsame Währung ohne gemeinsame Politik geben. Dieses Problem muss die Union lösen, bevor neue Mitglieder aufgenommen werden." Das Verhältnis der Union zu den Staaten des Westbalkans jedoch müsse vorher geklärt werden. Denn dort verstärkten widersprüchliche Töne aus Europa vorhandene Konflikte.
"Die Leute denken, Deutschland liebe Kroatien, Frankreich Serbien, die Türkei einen Teil Bosnien-Herzegowinas. Wenn sich das nicht bald ändert, dann haben wir in zwei Jahren, 100 Jahre nach dem Attentat von Sarajevo, dieselbe geostrategische Situation wie damals."