Wie viele Migranten sich derzeit in dem am südöstlichen Rande der EU gelegenen Balkanstaat Bosnien und Herzegowina aufhalten, ist nicht bekannt. Nicht zu übersehen ist, dass es tausende sind. Und: dass viele von ihnen krank sind. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die angestaute Wut der lokalen Bevölkerung eskaliert. Einer Bevölkerung, die sich mit dieser Situation allein gelassenen gefühlt.
Die Aufnahmekapazitäten der Notunterkünfte Bosniens sind nicht nur erschöpft. Am 15. November laufen zudem die Verträge für die beiden größten Flüchtlingsheime Bira und Miral aus, die die Internationale Organisation für Migration IOM bisher in den westbosnischen Städten Bihać und Velika Kladuša betreibt. Kurz vor Ende des Herbstes mussten rund 2.000 Migranten ihre bisherigen Unterkünfte verlassen.
"Die bestehenden Zentren, für die wir zu keinem Zeitpunkt unsere Zustimmung gegeben haben, müssen geschlossen und außerhalb bewohnter Gebiete verlegt werden", fordert Mustafa Ružnić, der Premierminister des Una-Sana-Kantons an der Grenze zu Kroatien, zu dem Bihać und Velika Kladuša gehören und wo sich die meisten Migranten aufhalten. Auch diejenigen, die zur Zeit im improvisierten Lager Vučjak direkt an der kroatischen Grenze leben, sollen an andere Orte verlegt werden.
Tatsächlich ist die Situation in Vučjak, einer ehemaligen Müllkippe, alarmierend. In ein paar Zelten leben dort derzeit um die 800 Menschen, die meisten davon Männer aus Syrien, Pakistan und Afghanistan. Es gibt keinen Strom und keinen Zugang zu frischem Wasser.
Viele haben Krätze und auch die Zahl von Hepatitis-Infektionen steigt. Derzeit kommt zweimal pro Woche ein Arzt ins Lager - für zwei Stunden. Ein Teil des Krankenhauses von Bihać wurde für schwere Fälle geöffnet, aber für die vielen Migranten, die sich derzeit in der Gegend aufhalten, reichen die Kapazitäten nicht.
Der lokale Katastrophenschutz geht davon aus, dass im Umfeld des Camps, auf dem Gebirgszug Plješevica, wo die Grenze zu Kroatien liegt, mehrere tausend weitere Menschen aufhalten, die jede Nacht erneut versuchen, in die EU zu gelangen. Wenigen gelingt das. Den anderen nehmen kroatische Grenzschützer Geld, Telefone und auch Schuhe weg. Manche werden auch verprügelt. Und dann zurück nach Bosnien geschickt. "Push Backs" wird das genannt. Nach europäischem und internationalem Recht ist das illegal.
"Ich habe es schon sieben mal versucht und werde nicht aufgeben", sagt ein Migrant, der sich als Mali aus Pakistan vorstellt. "Die Lebensumstände hier sind katastrophal, eine Zeit lang bekamen wir nicht mal Wasser und niemand hat den Müll weggebracht. Warum behandelt Ihr uns so, wir sind doch Menschen wie Ihr? Warum gebt Ihr uns keine Unterkunft für die Zeit, die wir hier verbringen müssen? Es will doch niemand hier bleiben."
"Wir haben den Migranten die Decken und Schlafsäcke gegeben, die wir hatten", berichtet Selam Midžić vom Katastrophenschutz Bihać. "Das Problem ist, dass jeden Tag neue Menschen nach Vučjak kommen. Die Bedingungen dort sind sehr schlecht, es ist kalt und feucht, es gibt viele Kranke. Unsere Möglichkeiten zu helfen, sind sehr beschränkt. Das Camp muss schnellst möglichst geschlossen werden."
Offizielle Angaben zur Zahl der Migranten, die sich in Bosnien und Herzegowina aufhalten, gibt es nicht. Es wird geschätzt, dass es um die 7.000 sind, davon ca. 5.000 im Una-Sana-Kanton, von wo aus man zumindest auf der Landkarte den reichen EU-Ländern am nächsten ist.
Auf dem Weg dorthin überqueren die aus Griechenland und der Türkei kommenden Menschen die Grenze zwischen Serbien und Bosnien in der Gegend der Stadt Loznica. Wie viele von ihnen dabei im Grenzfluss Drina ertrinken, weiß niemand. Aber es gibt immer mehr Gräber, auf denen statt eines Namens "NN" steht. Und nur ein Sterbedatum.
Die erste Station derjenigen, die es über die Grenze geschafft haben, ist die zentralbosnische Stadt Tuzla. Aber auch die dortigen Behörden sind überfordert - und fürchten, dass die Lage bei ihnen sich ähnlich entwickeln könnte wie im Una-Sana-Kanton. Bereits jetzt schlafen in Tuzla viele Migranten auf der Straße. Bleiben will niemand von ihnen, genauso wenig wie in Bihač oder Velika Kladuša.
Kleinere Zahlen von Migranten tauchen auch im Süden Bosniens auf. Dort wurde vor Kurzem ein Marokkaner bei dem Versuch erschossen, in ein scheinbar leer stehendes Haus einzudringen. Die Nächte werden schon jetzt kalt in Bosnien. Und der Winter hat noch nicht einmal begonnen.
Hauptgrund für das Versagen der bosnischen Behörden beim Umgang mit den Migranten im Land ist das Nicht-Funktionieren der Kommunikation des Gesamtstaates Bosnien und Herzegowina mit den kantonalen und lokalen Verwaltungen. So gibt es zwar Geld für neue Flüchtlingsunterkünfte - aber keine Verabredung darüber, wo diese entstehen sollen. Und zumindest im Moment will auch keine Gemeinde die Migranten auf ihrem Territorium.
Dragan Mektić, Sicherheitsminister Bosniens, will noch nicht bekannt geben, wo demnächst Migranten untergebracht werden sollen - aus Angst vor dem Widerstand lokaler Politiker in den Kantonen und Gemeinden. "Wir haben zehn Millionen Euro von Brüssel zugesagt bekommen. Damit können wir in wenigen Tagen Kapazitäten schaffen - aber die Leute geben uns keinen Ort", so Mektić. Der öffentliche Grundbesitz in Bosnien gehört fast ausschließlich den Kommunen. "Wir im Ministerrat können eine endgültige Entscheidung nicht alleine treffen."
Im Una-Sana-Kanton werden immerhin zwei mögliche Lokalitäten für neue Notunterkünfte für Migranten diskutiert: In den Ruinen eines seit Jahren verlassenen Bauerngehöfts bei Medeno Polje, einem Dorf mit ca. 15 Häusern; oder auf Lipa, einer Grünfläche in der Nähe von Bihać. In letzterem Fall müsste das Lager komplett neu errichtet werden. Das heißt auch, dass zu aller erst einmal Strom und Wasser angeschlossen werden müssen. Vertreter internationaler Organisationen haben beide Orte vor Monaten als nicht akzeptabel eingestuft, sagt Šuhret Fazlić, der Bürgermeister von Bihać.
"Vertreter der IOM waren auf Lipa und haben gesagt, dass der Ort bezüglich Strom und Wasser akzeptabel ist - aber nicht, was die Entfernung zu Schulen, Geschäften, Polizei betrifft, da die Stadt zu weit entfernt ist", so Fazlić.
Schon nach dem Bosnienkrieg zwischen 1991 und 1995 waren sowohl Lipa als auch Medeno Polje als nicht akzeptabel für serbische Rückkehrer in die mehrheitlich von Muslimen bewohnte Region eingestuft worden. Es dürfte also auch dieses Mal schwierig werden, hier eine Lösung zu finden. Die Einwohner von Petrovac, der Stadt nahe Medeno Polje, haben bereits angekündigt, dass sie die Zufahrtsstraßen blockieren werden, falls in ihrer Nähe eine Unterkunft errichtet werden sollte. Das gleiche gilt für die wenigen serbischen Anwohner von Lipa, die meinen, mit dem Flüchtlingsheim würde die Rückkehr von mehr Angehörigen ihrer Nationalität unmöglich gemacht.
Die mehrheitlich muslimische Bevölkerung von Bihać und Velika Kladuša hatte sich seit Beginn der Migration durch ihr Gebiet vor zwei Jahren lange solidarisch mit den Flüchtlingen gezeigt. Viele Bürgerinnen und Bürger versorgten die Migranten mit Wasser und Essen und ließen sie ihre Smartphones laden. Doch seitdem Kroatien Flüchtlinge mit Gewalt zurück nach Bosnien schiebt, ist die Solidarität einer Stimmung gewichen, die nicht anders als xenophob genannt werden kann.
"Die Situation wird immer unerträglicher: Jeden Tag kommen mehr Migranten hier an. Weil es keine Plätze in den Unterkünften gibt, schlafen sie auf der Straße, unter Brücken, auf Wiesen. Vielleicht wachen die staatlichen Institutionen jetzt endlich aus ihrem zweijährigen Schlaf auf und bemerken, dass es einen Teil des Staates gibt, wo sie überhaupt nicht auf eines der größten Probleme reagieren, dass zur Zeit nicht nur in Bosnien besteht, sondern in ganz Europa", sagt die Journalistin Niha Džanić von der Zeitung "Krajina" aus Bihać.
Bis dahin bleiben die Migranten auf sich gestellt. Und wenn die staatlichen Institutionen Bosniens nicht schnell reagieren, werden nach der Schließung der bisherigen Unterkünfte am 15. November noch mehr von ihnen im Freien schlafen müssen - bei Temperaturen, die in den Bergen an der bosnisch-kroatischen Grenze schnell weit unter Null Grad fallen.