Durch die Ornamente am Fenster, die die Worte Ada Kaleh umrahmen, fallen die Strahlen der Novembersonne und beleuchten einen großen Raum, in dem jedes Detail Orient atmet – die geschnitzten Stühle, die niedrigen Tische, die Fliesen mit Arabesken auf dem Boden, die Kronleuchter. Die Luft ist schwer, abgestanden, man fühlt, dass der Raum lange nicht gelüftet wurde. Emil Popescu bringt den Kaffee und gießt ihn in die Mokka-Tasse. Ein Geruch verbreitet sich, den ich kenne, der Geruch von Kaffee, der aus Bohnen gekocht wurde, die jemand selbst geröstet und in einer Handmühle gemahlen hat.
Ich habe ihn lange nicht mehr gerochen, aber ich habe ihn nach vierzig Jahren immer noch in der Nase. Ich war sieben Jahre alt, als meine Tante mich auf den Markt von Višegrad mitnahm zu Besuch bei befreundeten Muslimen. Bei Türken, wie man, damals ohne Boshaftigkeit, in den serbischen Dörfern sagte, wenn man von der anderen Seite der Donau sprach. Damals habe ich zum ersten Mal den Orient geschmeckt. Seitdem ist er in mir, dieser Geschmack. Er treibt mich dazu, ihn zu suchen, egal wo ich bin.
Von Gerüchen spricht auch Emil Popesku: „Als ich hörte, dass mit dem Bau des Staudamms die Insel untergehen würde, wollte ich wenigstens etwas von dem retten, was uns Leute aus Turnu Severin mit diesem Ort verbindet. Ich habe nicht auf der Insel gelebt, aber als Kind bin ich oft dort gewesen, auch als junger Mann. Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen: Die Ada Kaleh war ein Korb voller Blumen in der Donau, Rosen, Feigen, Trauben, Oliven, Leute.“ Popesku setzt sich: „Ich hatte dort viele Freunde, ich wollte ihnen helfen, damit sie, wenn sie sie umgesiedelt haben, wissen wohin. Und auch, dass sie dann tun können, was sie dort getan haben. Sie stellten Lokum her, also türkischen Honig, Marmelade aus Rosen, und diesen Kaffee. Das letzte Mal führte ich meinen Sohn dorthin, als er vier Jahre alt war. Er sagt bis heute, dass er sich an alles erinnert.“
Das Café in Turnu Severin, der rumänischen Donau – und Grenzstadt zu Serbien, hat Popesku 1968 eröffnet, dem Jahr in dem der Staudamm gebaut wurde und die Leute auf der Insel umgesiedelt wurden. Ihr zu Ehren hat er sein Café Ada Kaleh genannt. Auch sein Café ist nicht mehr da, wo es einmal war. „Das alte Café war irgendwie schöner, aber sie haben das Haus und noch ein paar andere zerstört, als sie den Springbrunnen im Stadtzentrum gebaut haben, diesen großen aus Metall. Danach bin ich hierher umgezogen. Vier Jahre lang habe ich es eingerichtet, mich um jedes Detail gekümmert.“
Während er erzählt, zündet sich Emil eine Zigarette an und ascht in eine große, rostige Dschezva, den kleinen Topf, in dem normalerweise türkischer Kaffee gekocht wird. „Diese Dschezva“, erklärt er, „benutze ich nicht mehr, aber damals wurden in ihr zehn Kaffees auf einmal gekocht. In mein Café kamen ganz unterschiedliche Gäste, sowohl wegen dem Kaffee als auch wegen der Süßigkeiten und wegen allem anderen auch. Mal kam ein ganzer Autobus Arbeiter direkt aus der Fabrik, aber auch die Reicheren kamen, zwei Präsidenten Rumäniens waren hier, als sie Turnu Severin besuchten.“
Im Café, erzählt Emil, hätten seine Freunde von der Insel gearbeitet – in türkischer Tracht, mit Fes auf dem Kopf. Dann begann das Geschäft schlechter zu laufen. „2009 habe ich schließlich zugemacht. Ich glaube nicht, dass ich wieder anfangen werde, jetzt gibt es neue Gesetze. Wenn du Kuchen machen willst, brauchst du eine Erlaubnis zur Herstellung, viele Genehmigungen. Viele Türken sind gegangen, es gibt noch ein paar in der Stadt, sie sind alt und krank, wie ich. Die Jungen suchen heute andere Dinge, sie trinken Espresso oder Nescafé. Wer trinkt schon türkischen Kaffee?“
Wie das Café verschwand auch die Insel, die ihm den Namen gegeben hat. Das war schon zwei Jahre, nachdem Emil Popesku sein Café eröffnet hatte. 1970 überflutete die Donau die 1.750 Meter lange, kaum einen halben Kilometer breite Insel, auf der sich genug Legenden und Geschichte für mehrere Generationen gesammelte hatten. Die Überlieferung besagt, dass eben dort, auf diesem Fleckchen Erde mitten in der Donau, wo das Klima so mild ist wie das ihrer Heimat weit im Süden, die Argonauten rasteten und das erste Mal Oliven sahen. Die nahmen sie von der Ada Kaleh mit in die antike Welt.
Reich an Geschichte war die Ada Kaleh wegen ihrer Lage. Wer ihr Herr war, beherrschte den unteren Lauf der Donau: Die Ada Kaleh war der Eingang zur Fahrt durch das Eiserne Tor. Erzählungen aus alten Zeiten berichten, dass der römische Kaiser Trajan an eben dieser Stelle seine Legionen über den Fluss setzte, als er in den Krieg gegen die Daker zog. Er hatte seine Boote so miteinander verbunden, dass eine Brücke entstand, mit der Insel in der Mitte. An der gleichen Stelle überquerten die Mongolen die zugefrorene Donau auf ihrem schrecklichen Zug nach Westen. Nach ihnen zogen durch die Jahrhunderte Westgoten, Hunnen, Slawen, Ungarn, Österreicher, Serben, Türken vorbei.
Den längsten Kampf um die Kontrolle über die Ada Kaleh führten die Türkei und Österreich – er dauerte mehr als fünfhundert Jahre. Auch der Name der Insel änderte sich. Lange hieß sie Sa’an, die Herkunft dieser Bezeichnung verliert sich irgendwo im Nebel der Geschichte. Später war sie als Karolina bekannt, nach der gleichnamigen österreichischen Festung, oder Neu Orschawa nach der Stadt Orschowa am rumänischen Flussufer. Manchmal hieß sie, in einer Mischung aus Arabisch, Persisch und Türkisch, auch Ada-i Kebir, die Große Insel. Den Namen Ada Kaleh, der so viel bedeutet wie befestigte Insel, erhielt sie nach dem Bau der großen türkischen Festung. Unter diesem Name sollte sie auch in der Donau versinken.
Befestigungen gab es auf ihr schon lange, noch von den Römern, aber die letzte, die größte Festung begannen die Österreicher zu bauen. 1689 war das, 1717 wurde sie fertig gestellt. Felix Philipp Kanitz, ein österreichischer Naturforscher, Archäologe und Völkerkundler, notierte, dass es auf der Insel „eine Kaserne, ein Krankenhaus, eine Kirche und einen Tunnel unter der Donau zum serbischen Flussufer“ gab. Dieser führte zur Uferfestung, „die vom österreichischen Zoll Fort Elisabeth genannte wurde“. Um die Insel wurden zahlreiche Schlachten geschlagen, mehrmals nahmen Österreicher und Türken sie sich gegenseitig weg. Das erste, was jeder Sieger unternahm, war die Markierung des Territoriums durch eine Gebetsstätte. Als die Türken 1738 die Ada Kaleh eroberten, machten sie aus dem Gebäude der österreichischen Militärkommandantur eine Moschee. Die Österreicher besetzten die Insel erneut im Frühjahr 1790 und wandelten die Moschee in ein Franziskanerkloster um. Aber nach nur einem Jahr wurde die Ada Kaleh im Friedensvertrag den Türken zurück gegeben, die das Kloster routiniert in eine Moschee umwandelten. Doch die Zeit der türkischen Herrschaft ging langsam zu Ende. Als 1867 die letzten sechs türkischen Festungen auf friedlichem Wege den Serben übergeben wurden, verlor die Ada Kaleh ihre Bedeutung für die Großmächte. Fortan war sie ein völkerrechtliche Skurrilität. Die Verwaltung der Insel übernahm Österreich-Ungarn, wobei die Insulaner offiziell Bewohner des Osmanischen Reichs blieben. Sie waren aber von Zoll und Militärdienst befreit.
An der Donau, dieser ewigen Grenze zwischen den Welten, köchelte schon immer eine dickflüssige Mischung von Völkern und Religionen. Einen Trennungsstrich zu ziehen war da schwer. Erst recht auf der Ada Kaleh, die nach dem Ersten Weltkrieg aufblühte. Sie hatte die schwere Last, immer wieder Kriegsbeute gewesen zu sein, von sich geschüttelt. Nach 1918 entschieden sich die Einwohner dafür, sich Rumänien anzuschließen. Im Frieden begann das Goldene Zeitalter der Ada Kaleh.
Nach wie vor wirkte die Insel wie ein vergessener Teil der Türkei in Europa, aber es hatten sich nicht nur Türken dort angesiedelt. Im Dokumentarfilm Geschichten von der Ada Kaleh des Regisseurs Ismet Arasan erinnern sich in der Türkei zerstreute überlebende Bewohner der Insel, dass die Leute von überall herkamen, einige auch als Exilanten, Flüchtlinge und Abenteurer verschiedener Religionen und Nationen. Sie erzählen, dass sie zusammen lebten, sich vermischten, dass es nicht unüblich war, dass eine Jüdin einen Imam beerdigte oder ein Muslim einen orthodoxen Priester. An Hidrelez, einem muslimischen Feiertag, der auf Serbisch Đurđevdan heißt, hatten alle frei. Die Insulaner waren wie eine Familie, sie achteten sich gegenseitig, trugen die selbe Kleidung, vor allem die traditionell türkische. Jeden Abend wurde getrunken, meist einheimischer Schnaps aus Maulbeeren, beim Schlafen wurden die Türen offen gelassen, niemand konnte sich erinnern, dass jemals Diebstahl oder Streit verzeichnet worden wären.
1931 besuchte der rumänische König Carol II. die Insel. Er trank Kaffee aus der Schale, aus der auch sein Vater getrunken hatte, hörte sich unter Gelächter die Legende an, nach der vor Zeiten jemand auf der Insel vorhergesagt haben soll, dass in eben diesem Jahr ein Herrscher auf die Insel kommen sollte, der den Inselbewohnern ihre Privilegien zurückgeben würde und die Einwohner zudem vom Zoll für die Einfuhr von Tabak und vier Waggons voller Zucker befreien würde und von der Steuer auf Souvenirs. Auf der Insel gab es eine Zigarrenfabrik, die Zigarren herstellte, von denen es hieß, sie könnten mit kubanischen konkurrieren. Sowohl Mitglieder der englischen Königsfamilie rauchten sie als auch der rumänische König selbst.
Jedes Jahr kamen zehntausende Touristen, um durch die schmalen, gepflasterten Gassen zu streifen, Ratluk mit Haselnüssen, Feigen – und Rosenmarmelade zu genießen, Halva, Wasserpfeifen. Auf Schwarzweiß- Fotografien sieht man eine Fußballmannschaft, von der Kleidung her würde man sagen, dass es sich um die Fünfzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts handelt. Hinter dem Spielfeld schimmert die Donau. Manche sagen, das größte Problem sei gewesen, dass der Ball oft in den Fluss fiel, so dass Zuschauer oder Spieler ihm hinterher schwimmen mussten.
Auf einem Treffen in der Moschee verlas der Imam Redžep Hodža 1963 zum ersten Mal die Bekanntmachung, dass Rumänien und Jugoslawien ein Kraftwerk am Eisernen Tor und den Đerdap-Stausee bauen wollen und die Insel untergehen werde.
Es gab einen Plan, die Bevölkerung, die komplette Festung und den größten Teil der Gebäude auf die Insel Șimian, die ehemalige Ada Gubavać, umzusiedeln. Șimian liegt 18 Kilometer stromabwärts, in der Nähe von Turnu Severin, dem Ort wo Emil Popesku 1968 sein Café eröffnete, und wo vor fast zweitausend Jahren der geniale Baumeister Apollodor von Damaskus für den römischen Kaiser Trajan eine Brücke über die Donau gebaut hatte.
Der rumänische Dokumentarfilm Der letzte Frühling auf der Ada Kaleh aus dem Jahr 1968 zeigt, wie die Festung Stein für Stein markiert und abgebaut wurde, um nach Șimian gebracht zu werden. Tatsächlich wurde auf Șimian ein großer Teil der Festung wieder errichtet, aber die Menschen gingen nicht mit. Vielleicht, weil Rumänien beschloss, dass das ganze Unterfangen zu teuer sei. Vielleicht auch, weil der Premierminister der Türkei, Süleyman Demirel, anlässlich seines Besuchs in Rumänien im Jahre 1967 den Einwohnern versprach, die Türen der Türkei stünden ihnen offen. Vielleicht aber auch, weil es für sie unvorstellbar war, ihre geliebte Insel durch eine andere zu ersetzen.
Den Leuten von der Ada Kaleh wurde freigestellt, nach Rumänien, Jugoslawien oder in die Türkei zu ziehen. Von den 600 Bewohnern zogen die meisten in die Türkei, einige wählten Jugoslawien. „Eine Familie zog hierher, nach Kladovo um, später gingen sie irgendwo anders hin,“ erzählt Brankica Joković, während sie gegenüber von Turnu Severin am serbischen Donauufer sitzt. „Hier ist wenig von der Ada geblieben, fast alle, die sich erinnern, sind gestorben. Mein Großvater hat mir erzählt, dass er und einige seiner Freunde oft auf die Insel gingen, sowohl vor als auch nach dem Zweiten Weltkrieg. Heimlich, nachts, mit Booten. Dort war die Grenze, rumänische Wachposten standen an jedem der vier Tore der Festung, aber die kannten sie und ließen sie rein. Sie tauschten Blumen, Ratluk, Kuchen von der Insel, alles, was unsere Landsleute nicht zu machen wussten, gegen Getreide und Mais. Man musste Handel treiben. Hier an der Grenze gab es immer eine Tradition des Schmuggels.“
Von den Einwohnern der Insel, die sich für Rumänien entschieden, gingen die meisten nach Constanța, Turnu Severin oder Orschowa. Ein Teppich aus der Moschee auf der Ada Kaleh wurde in die Moschee von Constanța gebracht, ein Geschenk des Sultans Abdülhamid II., 15 Meter lang und neun Meter breit. Auch Familien wurden zerrissen, die einen gingen auf die eine, die anderen auf die andere Seite der Donau. Wo auch immer sie hingingen: Sie nahmen die Geschichten vom verschwundenen Paradies und die Trauer über die verlorene Heimat mit.
Während draußen in der Sonne vom Herbst melancholische Hochzeitsgäste vorbeigleiten, erzählen Emil Popesku und sein Altersgenosse Viktor Rusu von der Insel, die ihr Leben geprägt hat. Zuerst verhalten, dann immer aufgeregter fällt der eine dem anderen ins Wort und korrigiert die Fehler in der Erinnerung. „Es gab ein Lied über eine Liebe zwischen einer jungen Türkin und einem rumänischen Flussschiffer, Ayşe und Dragomir, das wurde irgendwann in den Fünfzigern gesungen. Es hatte zwei Enden, ein glückliches und ein weniger glückliches. In einem Ende sind beide in die Donau gesprungen, weil die Familien nicht mit ihrer Liebe einverstanden waren. Beim Happy End blieben sie zusammen. Wenn rumänische Touristen mit dem Boot an der Insel vorbeifuhren, spielten wir dieses Lied immer am lautesten.“
Als die Bewohner in die Wohnblocks umgesiedelt wurden, haben sie ihr Leben nicht verändert. „Sie machten weiter das, was sie kannten“, erinnert sich Rusu. „Die Blocks rochen nach Marmelade aus Rosen und Halva. Durgut, ein Freund, hat bei mir Süßigkeiten gemacht, dann ist seine Familie weggezogen. Ilmas Ombasi, ein anderer Freund, ist schon 1969 nach Istanbul gegangen.“ „Vor dem Untergang wurden auch die Tiere umgesiedelt“, sagt Popesku. „Es gab Schafe und Ziegen. Dann wurde alles mit Dynamit eingeebnet, wohl damit nichts stehen bleibt und die Schifffahrt gefährdet. Wir haben vom Ufer aus zugesehen, wie die Zypressen fielen und die Häuser. Es gibt eine Legende, nach der das Minarett übrig geblieben ist und immer dann zu sehen war, wenn die Donau wenig Wasser führte. Aber das entspricht nicht der Wahrheit. Ich habe gesehen, wie es fiel. Das letzte, an das ich mich erinnere, ist, dass das Wasser über die Baumkronen stieg und tausende Vogelnester auf der Wasseroberfläche schwammen. Der Fluss trug sie sanft hinweg, hinter ihnen her flogen Schwärme verwirrter Vögel.“
Das Schmugglernest, die Oase der Freiheit, das Paradies, in dem so viele Kulturen, Nationen, Religionen in Frieden lebten, ist für immer im Wasser der Donau untergegangen.
Die Überlieferung besagt, dass die Einwohner der Ada Kaleh sich geschworen hatten, dass sie, wo auch immer sie sterben, auf einer Insel beerdigt werden. Die, die in Turnu Severin blieben, ließen sich auf dem Friedhof „Fähre“ begraben. Dorthin kommt man, wenn man an den Mietskasernen aus sozialistischen Zeiten in den Vororten von Turnu Severin vorbeigeht, mit Balkonen voller Wäsche und Satellitenantennen, und den Weg bergauf nimmt. Um den Zaun, der den Friedhof umgibt, liegt viel Müll, aber von diesem Platz fällt der Blick auf Donau.
Auf dem christlich-orthodoxen Friedhof ist ein Stück für Mitbürger anderen Glaubens reserviert. Einen Zaun gibt es zwischen diesen Teilen nicht. Das einzige, was sie unterscheidet, ist das Kreuz auf dem einen und der Halbmond auf dem anderen Grab. Auf manchen Gräbern der Türken sind Bilder der Verstorbenen. Das ist nicht eben üblich in der islamischen Welt, aber auf der Ada Kaleh gab es diese sinnlosen Grenzen zwischen den Welten ohnehin nicht. So hat sich der Geist der Insel bis auf den Friedhof gerettet. Die Gräber von der Ada selbst wurden nach Șimian umgezogen. Unter ihnen ist auch das Grab von Misčo Baba, über dessen Leben schwer zu sagen ist, ob es eher Mythos oder Wahrheit ist, wie so vieles, das mit der Insel zusammenhängt. Die Erzählung besagt, dass Baba ein Prinz im fernen Buchara war, der im Jahr 1786 abdankte, weil er im Traum mit heiligen Worten geheißen wurde, auf eine Insel zu ziehen. Also kam der Prinz auf die Ada Kaleh, wo er bis zu seinem Tod blieb. Die Insulaner erinnerten sich seiner wegen seiner Bescheidenheit, die Legende besagt, dass er Wunderheilungen vollbrachte und Wasser in Wein verwandeln konnte. Er starb im 95. Lebensjahr und sein Grab wurde eine Pilgerstätte für viele Muslime und Christen.
Viele Jahre konnten die Bewohner der Ada Kaleh ihre Toten auf Šimijan nicht besuchen. Bis 1989 durfte nur das Militär die Insel betreten. Die Donau war eine Grenze zwischen den Welten, auf ihr lag der Eiserne Vorhang, der Rumänien vom Westen trennte, der zu dieser Zeit in Jugoslawien begann.
Davon erzählen die zahllosen namenlosen Gräber auf der jugoslawischen Seite, die Gräber derer, die erfolglos versucht hatten, von Rumänien nach Jugoslawien zu schwimmen. Manche sind ertrunken, manche wurden erschossen, bevor sie die erdachte Grenze in der Mitte des Flusses erreicht hatten.
Aus dieser Zeit stammt auch die Legende vom „rumänischen Torpedo“, einer Flasche mit komprimierter Luft und angeschweißten Griffen, die, wenn man sie an einer Seite durchstach, den Flüchtenden zur anderen Seite des Flusses tragen würde. Die ersten Besucher, die nach der rumänischen Revolution Șimian besuchten, fanden eine Festung vor, die von Sträuchern und Unkraut bewachsen war. Viele Grabsteine waren von Kugeln beschädigt worden, die wohl die Grenzposten zum Spaß abgefeuert hatten.
Diejenigen, die für immer das Land oder den Ort, an dem sie geboren wurden, verloren haben, haben etwas gemeinsam. Es ist nicht nur der Verlust der Kindheit und der Jugend, jener Zeit, als jedem das Gras grüner zu sein schien als später, als alles noch unschuldig war und unendlich schön. Eher ist es eine Behinderung der Seele, das Gefühl, das etwas fehlt, etwas, das noch da ist, obwohl man weiß, dass das falsch ist. Ein Phantomschmerz. „Als wäre auch dieses Land und dieses Belgrad, dass ich einmal kannte, von der Donau fortgetragen worden,“ schreibt aus weiter Ferne ein Freund, der vor langem weggegangen ist.
Dieser Schmerz entweicht aus jedem Wort der Geschichten von der Ada Kaleh. „Die Insel hatte einen besonderen Geruch, er war an jeder Seite anders. Vom Fluss kam der fast meerähnliche Geruch des Wassers, um die Häuser herum verbreitete sich der Geruch der Früchte oder der Marmelade, die vorbereitet wurde. Ging man auf den Basar, traf einen der Geruch das Tabaks. Im Frühjahr ergrünte die ganze Insel, und am Abend, sobald die Dämmerung fiel, begann ein richtiges Orchester von Fröschen zu quaken. Alle haben eine Heimat, jeder kann seinen Herkunftsort besuchen, jeder kann irgendwohin zurück. Ich kann den Ort, an dem ich aufgewachsen bin, nicht meinem Mann und meinen Kindern zeigen.“
Ein anderer trauert: „Für die Kinder war es besonders paradiesisch. Dort haben wir gelernt, mit anderen zu teilen. Die Feiertage waren besonders, in der Türkei haben wir eine solche Atmosphäre, solche Feiern nicht erlebt. Wir hatten einen Strand, aber wir konnten nicht weit vom Ufer fortschwimmen, wegen der Wirbel und Strudel. Die Leute lebten lang, sie aßen das, was sie selbst angebaut hatten, an der frischen Luft, es gab keine Automobile, Stress. Ich danke Gott, dass ich meine Kindheit und Jugend in dieser paradiesischen Ecke der Welt erlebt habe. Wenn es irgendwo einen solchen Ort gäbe, ich würde alles aufgeben und dort leben.“ Und noch ein anderer: „Ich habe die vier Ecken des Hauses geküsst, die Tür offen gelassen und bin mit Tränen in den Augen gegangen. Nachdem sie endgültig überschwemmt war, konnten die Leute noch lange Zeit Vögel sehen wie sie über der Donau flogen, dort, wo einmal die Ada Kaleh gewesen war.“
Autor: Momir Turudic
aus dem Serbischen: Rüdiger Rossig
Veröffentlicht auf den Seiten 11-22 des Buches: Uwe Rada / Andrej Ivanji (hg.), Geschichte im Fluss: DONAU-Brücken der Erinnerung, Originalausgabe Mai 2013 © Onlinedossier: Geschichte im Fluss. Flüsse als europäische Erinnerungsorte, www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/geschichte-im-fluss/, Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung, www.bpb.de 2013, Creative Commons-Lizenz by-nc-nd/3.0/de, Printausgabe: Geschichte im Fluss, Donau, Brücken der Erinnerung, in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ GmbH), Design: Ivan Hrašovec, Druck: Publikum, Belgrad